Handbuch des Strafrechts. Robert Esser
schrieb ihm sogar eine positive Wirkung zu: „Das Verbrechen spielt in der sittlichen Entwicklung … eine nützliche Rolle. Es hält nicht bloß den notwendigen Änderungen den Weg offen, in manchen Fällen bereitet es auch diese Änderungen direkt vor.“ In diesem Sinne verstanden, sei das Verbrechen gelegentlich eine „Antizipation der zukünftigen Moral, der erste Schritt zu dem, was sein wird.“[53]
20
Nicht selten wird sich das Verbrechen auch als Ausdruck eines Normenkonflikts deuten lassen. Es liegt auf der Hand, dass soziale Normen in bestimmten Situationen Unterschiedliches fordern können. Damit entsteht das Problem, dass Normen einander widersprechen oder zumindest miteinander in Konkurrenz geraten können. Dies ist kein neues Phänomen.[54] Im Strafrecht werden derartige Konflikte traditionell im Rahmen einer möglichen Rechtfertigung,[55] aber auch im Kontext von Verbotsirrtum[56] und Gewissentäterschaft[57] diskutiert; besonders schwierig zu lösen sind Normenkonflikte, bei denen staatliches Recht zu religiös gestützten sozialen Normen in Widerspruch steht.[58]
1. Abschnitt: Das Strafrecht im Gefüge der Gesamtrechtsordnung › § 1 Strafrecht im Kontext der Normenordnungen › C. Recht und Moral
I. Gemeinsame Wurzeln
21
Aus den Sitten als normativ empfundenen und sanktionsbewehrten Gewohnheiten entwickeln sich nach Geiger sowohl das Recht als auch die Moral[59] (These vom genetischen Zusammenhang von Recht und Moral).[60] Die Sitten (Geiger spricht auch von der „kommunitären Ordnung“[61]) werden einerseits einem Prozess der Veräußerung und „Veranstaltlichung“ unterzogen – so entsteht das Recht, und andererseits einem Prozess der Verinnerlichung, was zur Entstehung der Moral führt: „Genetisch gesehen haben Recht und Moral also ihre gemeinsame Wurzel in einer kommunitären Lebensordnung, aus der sie durch polare Entfaltung in ihr komplex vorhandener Elemente hervorgegangen sind. Primum jus und primae mores sind ein und dasselbe.“[62] Zur Moral tritt in vielen Gesellschaften noch eine religiöse Überhöhung hinzu; Geiger spricht von einer „Überbauung … mit magisch-religiösen Vorstellungen.“[63]
22
Geiger zufolge lassen sich drei Formen von Moral unterscheiden: die traditionelle Moral, die dogmatische Moral und die autonome Moral. Kennzeichnend für traditionelle Moral soll sein, dass „habituell entstandene Norminhalte mit der spezifisch moralischen Wertvorstellung des Guten überbaut und ihre Befolgung demgemäß dem einzelnen ins Gewissen geschoben ist. Hier also ist das Gewissen nur Sittenrichter …“.[64] Dagegen setzt die dogmatische Moral bereits erhebliche Reflexionsanstrengungen voraus; sie „hat ihren Ursprung in der ethischen Spekulation über die Wertidee des Guten. Aus ihr als einem Prinzip wird deduktiv ein System von moralischen Lebensgrundsätzen entwickelt und dogmatisch als allgemeingültig gelehrt.“[65] Kennzeichnend für die dritte Moralform, die autonome Gewissensmoral, ist nach Geiger die Erkenntnis, dass es vorgegebene moralische Inhalte nicht gibt: der „ethische Dogmatismus endet … in einem unaufhebbaren Schisma der Moralen.“[66]
23
Was bleibt, ist der „ethische Subjektivismus“, die „formale Wertethik“ (Geiger verwendet diese Ausdrücke als Synonyme zum Begriff der „autonomen Gewissensmoral“). Danach „ist die Kategorie des Guten im Menschen kraft seiner mentalen Struktur angelegt, die Inhaltgebung der Wertidee des Guten aber zeitlich, örtlich und individuell verschieden, ohne dass es möglich wäre, anhand objektiver Maßstäbe für die eine, gegen die andere Auffassung zu entscheiden.“[67] In derartigen Konzepten ist das persönliche Gewissen also nicht bloß „Moralrichter“, sondern „normstiftende Moralautorität.“[68]
24
Geigers sehr differenzierte Analysen können noch heute als Ausgangspunkt der rechtssoziologischen und auch der rechtswissenschaftlich-dogmatischen Betrachtung dienen. Sie sind jedoch in einem wesentlichen Punkt unterkomplex: Infolge von Migration und neuen weltumspannenden Kommunikationsformen treffen in der Gegenwart in vielen modernen Gesellschaften Moralvorstellungen aufeinander, die sich in unterschiedlichen Kulturkreisen entwickelt haben, und die sich auch in ihrem Verhältnis zu der im Staat geltenden Rechtsordnung deutlich unterscheiden. Die These vom genetischen Zusammenhang von Moral und Recht, ihrer Herkunft aus einer Wurzel, lässt sich im Hinblick auf konkrete Rechts- und Moralordnungen jedenfalls dann nicht halten, wenn die Beteiligten unterschiedlichen Kulturen entstammen. Auf das damit angedeutete Problem der neuen Interkulturalität des Rechts, insbesondere des Strafrechts, wird noch näher einzugehen sein (vgl. insbes. Rn. 114 ff.).
II. Zur Unterscheidung von Recht und Moral
25
Zum Verhältnis von Recht und Moral existieren ganze Bibliotheken an Literatur.[69] Zur Moral sollen hier, Theodor Geiger folgend, solche sozialen Normen gerechnet werden, deren Einhaltung bei Akteur und Beobachtern von einem Gefühl innerer Verpflichtung gestützt wird. Oft tritt auch noch eine philosophische oder religiöse Überhöhung hinzu (s.o. Rn. 21).
26
Das Vorliegen von Recht ist hingegen von der Existenz staatlicher Autorität abhängig: „Von einer Rechtsordnung sprechen wir nur dann, wenn innerhalb eines nach einzelnen, nebeneinanderstehenden oder ineinander verschränkten Gruppen differenzierten Gesellschaftsmilieus eine übergeordnete Zentralmacht sich gebildet hat. … Der Struktur des Ordnungsmechanismus nach unterscheidet sich die rechtliche von der vorrechtlichen dadurch, daß ein besonderer Apparat zur Handhabung der Ordnung besteht, eigene Organe dafür ausgebildet sind.“[70]
27
Recht unterscheidet sich von Moral vor allem dadurch, dass die Verletzung rechtlicher Normen durch gesellschaftlich organisierten Zwang[71] beantwortet wird (etwa gerichtlich angeordneten Vollzug oder staatliche Strafe), während die Verletzung moralischer Normen in der Regel bloß durch die eigene Gruppe sanktioniert wird oder der Eigensanktionierung durch das „Gewissen“ unterliegt. Begrifflich lassen sich Recht und Moral also klar unterscheiden.[72]
28
In der Aufklärung wurde die Unterscheidung von Recht und Moral gerade im Kontext der Strafrechtsphilosophie bzw. Strafrechtspolitik besonders betont.[73] Dies hing damit zusammen, dass „Moral“ damals noch fast ausschließlich „religiöse Moral“ bedeutete, und sich die Aufklärer von den Vorgaben der Kirchen absetzen wollten, ohne freilich die Macht zu besitzen, religiöse Moral direkt angreifen zu können. So sah sich Beccaria im Vorwort zur 1766 erschienen zweiten Auflage seiner Schrift „Über Verbrechen und Strafen“ gezwungen, ausführlich darzulegen, dass er keineswegs Grundsätze vertrete, „welche Tugend oder Religion zerstören“.[74]
III. Überschneidungen
29
Es existiert eine Reihe von Überschneidungen zwischen Recht und Moral, die nicht bloß theoretisch, sondern auch praktisch von großem Interesse sind. Historisch gesehen besitzen, wie oben dargelegt (Rn. 21), Recht und Moral eine gemeinsame Wurzel. Moralische Überzeugungen spielen bei der Entstehung von Gesetzen eine große Rolle, auch wenn nicht alle Gesetzgebungsvorhaben moralisch so umstritten sind wie die Reformen des Schwangerschaftsabbruchs[75] oder der Sterbehilfe.[76] Im demokratischen Staat besteht zwischen staatlichen Gesetzen und der Sozialmoral ein enger Zusammenhang. Dies gilt auch (und gerade) für Strafgesetze.[77]