Handbuch des Strafrechts. Robert Esser
Ziegen, Hunde, Vögel, Bienen, anderswo zu Pferden.[38] Was die prozessuale Durchsetzung betrifft, so wird die ursprüngliche Selbsthilfe sukzessive verdrängt durch ein öffentliches – vom Oberhaupt der Großfamilie geleitetes – Verfahren, zu dessen Erscheinen der Rechtsbrecher gezwungen werden kann. Wesentlich sind auch hier rituelle Äußerlichkeiten, dass nämlich das Verfahren zu einer bestimmten Zeit (etwa einer bestimmten Mondphase) an einem bestimmten (geweihten) Ort unter Vornahme bestimmter Handlungen stattfindet. Auch bei der Sachverhaltsermittlung äußert sich das magisch-irrationale Weltverständnis, indem der Reinigungseid (wiederum: bedingte Selbstverfluchung) rechtsverändernd vom Verdacht eines Rechtsbruchs befreit und die natürlich-magischen Kräfte rechtsetzend wirken, wenn etwa das Wasser nur den Unschuldigen aufnimmt, hingegen den Schuldigen oben schwimmen lässt, oder es dem Unschuldigen möglich ist, unbeschadet ein Stück Eisen mit bloßer Hand aus kochendem Wasser zu nehmen („Kesselfang“).[39]
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Im 6. bis 9. Jahrhundert werden die archaischen Rechtsbräuche, wie die zahlreichen neben der Lex Salica existierenden Aufzeichnungen der verschiedenen Volksrechte belegen (lat. Leges barbarorum = Gesetze der Barbaren), mit der christlichen Lehre amalgamiert und überdauern auf diese Weise, etwa indem die zuletzt geschilderten Beweisbehelfe als Gottesurteile Anerkennung finden (bis zu ihrer Delegitimierung durch Papst Innozenz III., reg. 1198–1216 n.Chr., auf dem IV. Laterankonzil von 1215 n.Chr.).[40] Beherrscht wird das Rechtsleben weiterhin durch das Kompositionensystem und die kasuistische Normengestaltung. Verbreitung als Element des römisch-christlichen Rechts findet die Körper- und Todesstrafe auch gegen Freie (nicht nur gegen Sklaven) zunächst in Hochverratsfällen, später auch bei anderen schweren Verbrechen. Neben dem aufgezeichneten Volksrecht normieren die Karolinger Recht in den Kapitularien (königlichen Schreiben; von lat. capitulum, einer Verwaltungseinheit), vermittelt durch Königsboten.[41] Der König und seine Boten sitzen über gravierende Fälle selbst zu Gericht; vor allem den Hochverrat verfolgen sie inquisitorisch (das heißt durch Ermittlung von Amts wegen, von lat. inquisitio = Untersuchung, Befragung) und mittels Folter; flächendeckend herrscht aber das Anklageverfahren (als ein privat initiiertes Parteienverfahren); minder schwere Fälle werden vor örtlichen Gerichten verhandelt. Diese öffentliche Strafverfolgung findet ihre Grenzen an der geringen verwaltungsmäßigen Durchformung des Frankenreiches; das gilt in erhöhtem Maß nach der Teilung desselben (in Westfranken, Lothringen und Ostfranken, das sich noch im 9. Jahrhundert auf Lothringen ausdehnt) durch den 843 n.Chr. von den drei Enkeln Karls des Großen geschlossenen Vertrag von Verdun und für die folgende quellenarme Zeit bis ins 11. Jahrhundert n.Chr.[42]
2. Abschnitt: Strafrechtsgeschichte › § 5 Geschichte des europäischen Strafrechts bis zum Reformationszeitalter › D. Hoch- und Spätmittelalter (1000–1500)
I. Das deutsche König- und Kaiserreich, die Kirche, die Städte
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Das Ostfrankenreich ist seit der Krönung des Sachsen Heinrich I. im Jahr 919 ein Königreich, wobei die Königswürde nicht vererbt wird, sondern die Territorialfürsten den König wählen. Bis 1250 ist die Wahl auf das Königshaus beschränkt, wodurch Dynastien regieren: Nach den Sachsen die Salier (1024–1125) und die Staufer (1152–1250). Die Stauferzeit kann als klassische Zeit, als Blütezeit des mittelalterlichen Reiches gesehen werden; impulsgebend wirkt insbesondere die Errichtung eines zentralistisch organisierten Staates auf Sizilien durch Kaiser Friedrich II. (seit 1198 König von Sizilien, seit 1211 von Deutschland, Kaiser seit 1220, gest. 1250).[43] Nach der Absetzung des letzten Staufers folgt ein Interregnum, eine herrscherlose Zeit, danach, ab 1273, setzt sich – was eine politische Schwächung des Königs bedeutet – das dynastieunabhängige passive Wahlrecht durch; sukzessive wird das aktive Wahlrecht auf die sieben Kurfürsten (= Wahlfürsten; küren = wählen) beschränkt, nämlich drei geistliche, die Erzbischöfe von Mainz, Trier und Köln, und vier weltliche, den König von Böhmen, den Pfalzgrafen bei Rhein, den Herzog von Sachsen und den Markgrafen von Brandenburg. Kaiser Karl IV. (deutscher König 1346–1378, römisch-deutscher Kaiser ab 1355) lässt dies 1356 festschreiben in einer Bulle, das heißt einem feierlich verfassten Erlass (lat. bulla = Siegelkapsel), die wegen ihres goldenen Siegels Goldene Bulle genannt wird und als erstes und wichtigstes Grundgesetz des Königreiches gelten kann.[44] Die politische Macht des Königs beruht – neben seiner territorialen Hausmacht – darauf, dass er auf das mit dem Königsamt verbundene Reichsgut zurückgreifen kann, nämlich auf den Ertrag des betreffenden Grundbesitzes sowie auf nutzbare Hoheitsrechte, sog. Regalien (lat. iura regalia = königliche Rechte) wie Münzrechte, Zölle, Jagdrechte u.a. Gleichwohl ist der König zur Beherrschung des Reiches angewiesen auf die – historisch brüchige – Gefolgschaft der Territorialherrscher; seine Macht wird nicht als territoriale begriffen (das Reich ist im Lauf der Jahrhunderte zahlreichen Grenzveränderungen unterworfen, es verfügt nicht über eine feststehende Hauptstadt, der König regiert reisend), sondern basiert auf personaler Bindung. Diese erzeugt der König, indem er die Territorialherrscher mit Grundbesitz belehnt und dadurch zur Treue, konkret zum Wehrdienst verpflichtet. Die Umstellung der Kriegsführung – von der Fußtruppe zum Reiterheer – lässt einen neuen Stand, den der Ritter entstehen, die ihrerseits von den Territorialfürsten belehnt werden und als Grundherren von ihrer Burg aus ihren Grundbesitz einschließlich der Bauern beherrschen.[45]
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Bereits im 10. Jahrhundert (Kaiserkrönung des zweiten Sachsenkönigs Ottos I. im Jahr 962 in Rom durch den Papst) ist die weströmische Kaiserwürde (die mit der Krönung Karls des Großen erneuert worden war) auf die Könige des Ostfrankenreiches übergegangen, das demnach Nachfolger des Römischen Reiches ist und seit dem 13. Jahrhundert Sacrum Romanum Imperium, Heiliges Römisches Reich, genannt wird, seit dem 15. Jahrhundert mit dem Zusatz deutscher Nation – bis zur Abdankung des letzten Kaisers 1806. Diese höchste – göttliche – Legitimierung festigt Macht und Ansehen des Königs, allerdings um den Preis, dass er sich dem ihn zum Kaiser krönenden Papst unterordnet. Denn jedenfalls nach kirchlicher Deutung ist es der Papst, der die Kaiserwürde von Rom auf das Frankenreich, dann auf das Ostfränkische Reich hat übergehen lassen (genannt lat. translatio imperii = Übertragung der Kaiserherrschaft). Dass die Kirche ein eigenständiger und ebenbürtiger Machtfaktor ist, stützt sie argumentativ auch auf die von Papst Gelasius I. (reg. 492–496) formulierte Zwei-Schwerter-Lehre (die geistliche und die weltliche Macht als zwei von Gott verliehene Schwerter) und die angebliche Schenkung der Herrschaft des weströmischen Reiches seitens des Kaisers Konstantin des Großen (reg. 306–337) an die Kirche, wobei diese sog. Konstantinische Schenkung eine im 8. Jahrhundert gefälschte, aber erst im 15. Jahrhundert als Fälschung erkannte Urkunde ist. Die Geschichte des Mittelalters ist auch die Geschichte der Auseinandersetzung von geistlicher und weltlicher Macht, von sacerdotium und regnum.[46]
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Die Macht der Kirche stützt sich dabei seit der fränkischen Zeit auch auf eine starke wirtschaftliche Basis. Die Kirche ist Eigentümerin von Klöstern, die nicht nur intellektuelle Zentren bilden, sondern auch über ausgedehnten Landbesitz verfügen; der Abt agiert als Grundherr. Im 10. Jahrhundert breitet sich, ausgehend von den Klöstern des Westfrankenreichs, über dieses und das Gebiet des Heiligen Römischen Reiches eine Reformbewegung aus, die sich gegen Simonie (Ämterkauf), gegen die Einsetzung von Laien in kirchliche Ämter und gegen die Priesterehe und das Konkubinat (die dauernde außereheliche Geschlechtsgemeinschaft) wendet und eintritt für die asketischen Ideale des Mönchstums. Der Abt des Benediktinerklosters im burgundischen Cluny wird einer der einflussreichsten Männer Europas. Allmählich treten politische Forderungen in den Vordergrund, und es wird die Unabhängigkeit der wirtschaftlich gestärkten Klostergüter von den Bischöfen als den für ein bestimmtes Gebiet eingesetzten Kirchenfürsten durchgesetzt, indem die Klöster unter direkten päpstlichen Schutz gestellt werden. Der mächtige salische Kaiser Heinrich III. (reg. 1028–1056) nutzt seine Verbindungen