Handbuch des Strafrechts. Jan C. Joerden
Abs. 1 StGB als Rechtsgeltungsregel verstünde, wären auch die durch Strafnormen in Bezug genommenen Regelungen dem „lex posterior derogat legi priori“-Grundsatz entzogen und würden fortgelten. Entweder kommt man dann zu einer gespaltenen Rechtsgeltung ein und desselben Gesetzes im strafrechtlichen und im außerstrafrechtlichen Bereich, was mit den staatsrechtlichen Grundlagen der Gesetzeslehre nicht vereinbar ist, oder es wird zu einer Frage des Anwendungsbereichs einer Regelung, nämlich ob sie nur in den außerstrafrechtlichen Rechtsgebieten noch zum Tragen kommt. Vergegenwärtigt man sich schließlich, dass das Strafrecht nicht nur durch Blankettverweisungen außerstrafrechtliche Normen in Bezug nimmt, sondern darüber hinaus auch andere Regelungen insbesondere bei rechtsnormativen Tatbestandsmerkmalen die Strafrechtslage bestimmen können, so wird deutlich, dass § 2 Abs. 1 StGB bei der Interpretation als Rechtsgeltungsregelung letztlich zum Grundsatz erhoben und der „lex posterior“-Satz zur Ausnahme würde. Selbst wenn ein Strafgesetz ausdrücklich aufgehoben wird, müsste es aufgrund von § 2 Abs. 1 StGB, sofern man hierin eine strafrechtliche Geltungsregel sieht, fortgelten. Der Gesetzgeber kann sich jedoch durch § 2 Abs. 1 StGB nicht der Kompetenz entledigen, ein Strafgesetz vollständig außer Kraft zu setzen.
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Schließlich spricht gegen die Einordnung von § 2 Abs. 1 StGB als Rechtsgeltungsregel, dass durch diese Vorschrift das verfassungsrechtliche Rückwirkungsverbot des Art. 103 Abs. 2 GG bestätigt wird. Bei Art. 103 Abs. 2 GG handelt es sich aber nach ganz h.M. um ein Grundrecht des Bürgers, das der staatlichen Machtausübung Grenzen setzt, und nicht um eine Rechtsgeltungsregel.[51] Außerdem wird in § 2 Abs. 1 StGB klargestellt, dass sich die Strafe und ihre Nebenfolgen nach dem Gesetz, das zur Zeit der Tat gilt, bestimmt. Die Aussage, dass ein Gesetz, das zwischen Tat und Verurteilung aufgehoben oder geändert worden ist, weiterhin gilt, enthält § 2 Abs. 1 StGB nicht. Damit handelt es sich nicht um eine Rechtsgeltungsregel. Der Einwand, ein außer Kraft gesetztes Strafgesetz könne als „Nichtrecht“ nicht mehr angewendet werden, verkennt, dass aufgehobene Rechtsnormen sich durchaus als limitierende Faktoren für jüngere Gesetze erweisen können, um Grundrechtseingriffe zu vermeiden. In solchen Fällen wird die Neuregelung durch das vorausgehende Gesetz inhaltlich begrenzt. Hierfür bedarf es keiner Fortgeltung früherer Gesetze; es reicht eine Einschränkung des zeitlichen Anwendungsbereichs des neuen Gesetzes aus, und die Rechtsfolgen können weiterhin nach dem inzwischen aufgehobenen Gesetz bestimmt werden. Die Anwendung eines nicht (mehr) gültigen Gesetzes ist im Übrigen der Rechtsordnung keineswegs fremd, wie die Rechtslage bezüglich nachkonstitutioneller verfassungswidriger Gesetze zeigt, die bis zur Verwerfung durch das Bundesverfassungsgericht von den Gerichten anzuwenden sind und Rechtswirkungen hervorbringen.[52]
c) Regelung des zeitlichen Anwendungsbereichs durch § 2 StGB
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Vom „zeitlichen Geltungsbereich“ einer Norm ist ihr „zeitlicher Anwendungsbereich“ zu unterscheiden. Beim zeitlichen Geltungsbereich geht es um die Frage, ab wann und wie lange eine Norm gilt. Beim zeitlichen Anwendungsbereich geht es um die Frage, wofür das Gesetz gilt, also in welchem Zeitraum sich die von dem Tatbestand erfassten Sachverhalte und Vorgänge ereignet haben müssen, damit die Regelung anwendbar ist. Wenn ein Gesetz Rechtsfolgen an vergangene Sachverhalte und Rechtsbeziehungen knüpft, die sich noch während der Geltung des früheren Gesetzes ereignet haben, liegt ein Fall der Rückwirkung vor.
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Wenn der Anwendungsbeginn eines Gesetzes auf einen Tag nach In-Kraft-Treten der neuen Regelung verlegt wird, ist das Gesetz mit seinem In-Kraft-Treten zwar gültig, aber noch nicht anwendbar. Die Anwendbarkeit kann auch für einen späteren Zeitpunkt als das Inkrafttreten angeordnet werden. Die Anordnung der zeitlichen Anwendung betrifft somit nicht die Gültigkeit der Norm, sondern deren materiellen Inhalt.[53] Die Normen betreffend die Geltung sind also den Regelungen des § 2 StGB, die den materiellen Inhalt bestimmen, vorgelagert.
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Für die hier getroffene Unterscheidung zwischen „Geltung“ und „Anwendung“ des Gesetzes spricht schließlich die Konsistenz und größere Klarheit.[54] Zwar kann auch ein „anzuwenden sein“ als „gelten für“ verstanden werden. Dieser weite Geltungsbegriff, der Formulierungen wie „anzuwenden“, „sich bestimmen nach“, „zu entscheiden sein nach“ einbezieht und der sich auch in der Überschrift des § 2 StGB findet, sollte zugunsten des die Rechtslage klarer umschreibenden engen Geltungsbegriffs aufgegeben und von der Anwendung einer Norm unterschieden werden.
d) § 2 StGB als Rechtsgeltungsregel für das frühere Gesetz
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Die Anwendung des Rechts ist im Strafrecht den Strafverfolgungsorganen vorbehalten. Zwar richten sich Strafnormen mit den in ihnen enthaltenen Verboten an den Einzelnen, und für diesen muss die Strafbarkeit zum Zeitpunkt der Begehung der strafbaren Handlung vorhersehbar sein. Die Aburteilung, d.h. die Verhängung der Strafe, kann jedoch nur von den staatlichen Organen vorgenommen werden, und diese können sich nur auf das jeweils in Kraft befindliche Gesetz stützen, das einen Eingriff in die Rechte des Einzelnen vorsieht (Vorbehalt des Gesetzes).[55] In Kraft ist aber zum Zeitpunkt der Verurteilung nur noch die später erlassene Vorschrift; die frühere Regelung hat entsprechend dem Grundsatz „lex posterior derogat legi priori“[56] ihre Geltung verloren.[57] Dennoch bleibt die frühere Regelung auf die zur Zeit ihrer Geltung begangenen Taten anwendbar. Diesbezüglich kann von einer „Nachwirkung des alten Rechts“ gesprochen werden,[58] die insbesondere im Rahmen einer rückwirkenden Strafschärfung als Grenze der Rechtsanwendung Bedeutung erlangt. Hingegen kann eine Norm wie § 2 StGB als einfachrechtliche Regelung nicht zur (Fort-)Geltung im engeren Sinne eines Gesetzes für den Bereich des Strafrechts führen.[59]
e) Grundsätzliche Geltung des Urteilszeitrechts
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Wenn man somit von der grundsätzlichen Geltung des Urteilszeitrechts ausgeht[60], stellt das zur Entscheidungszeit geltende Gesetz das grundsätzlich anzuwendende Gesetz dar.[61] Hierin kommt zum Ausdruck, dass das Rückwirkungsverbot jedenfalls formell eine Ausnahme von dem allgemeinen Prinzip bildet, dass der Richter das jeweils neueste Recht anzuwenden hat. Unter Zugrundelegung dieser Sichtweise bezieht sich § 2 Abs. 1 StGB nur auf die an den Richter gerichtete Sanktionsnorm und nicht auf die an den Bürger gerichtete Verhaltensnorm.[62] Die Anwendung der allein in Geltung befindlichen lex posterior ist dann kein Fall der Rückwirkung zugunsten des Täters, sondern Folge des Grundsatzes, dass die lex posterior die lex prior außer Kraft gesetzt hat. Aus den verfassungsrechtlichen Vorgaben folgt, dass bereits im Zeitpunkt der Tat das sanktionsfähige Verhalten und der Sanktionsrahmen gesetzlich festgelegt sein müssen. Dem Tatzeitrecht ist dabei eine limitierende Funktion zuzusprechen.[63] Der Gesetzgeber musste zum Zeitpunkt der Tatbegehung die Freiheit des Bürgers durch ein allgemeines Gesetz begrenzt haben. Hierin kann eine komplementäre Funktion des Tatzeitrechts gesehen werden.[64] Sie bedeutet jedoch keine Durchbrechung des lex posterior-Prinzips. Wenn es sich bei der lex posterior um ein Zeitgesetz handelt, das „nur für eine bestimmte Zeit gelten“ sollte, ordnet § 2 Abs. 4 StGB an, dass dieses Gesetz anwendbar bleibt, um zu verhindern, dass die Bürger im Hinblick auf das baldige Außerkrafttreten der Norm Straftaten begehen.
f) Praktische Bedeutung der unterschiedlichen Konzeptionen des § 2 StGB
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In der praktischen Handhabung wirken sich die unterschiedlichen Konzeptionen des § 2 StGB in der Regel nicht aus; sie können aber durchaus im Einzelfall bedeutsam werden, insbesondere wenn sich Fragen des Vorrangs des Unionsrechts stellen (Rn.