Handbuch des Strafrechts. Jan C. Joerden
Regelungsgehalt des § 2 Abs. 1 StGB: limitierende Funktion der aufgehobenen Rechtsnormen
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§ 2 Abs. 1 StGB sieht vor, dass sich die Strafe und ihre Nebenfolgen nach dem Gesetz bestimmen, das zur Zeit der Tat gilt. Damit wird das in Art. 103 Abs. 2 GG garantierte Rückwirkungsverbot („nulla poena sine lege praevia“) aufgegriffen und die Regelung des § 1 StGB ergänzt. Gesetzesänderungen nach Begehung der Tat können sich nicht mehr zu Lasten des Täters auswirken. Dies gilt unabhängig davon, ob man in § 2 Abs. 1 StGB eine Rechtsgeltungsregel oder aber eine Rechtsanwendungsregel sieht, die die aufgehobenen Rechtsnormen als limitierende Faktoren zur Anwendung bringt.
a) Anwendungsbereich des § 2 Abs. 1 StGB
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Der Gesetzesbegriff wird entsprechend der Ratio des Rückwirkungsverbots weit verstanden und erfasst das gesamte für das Ob und das Wie der Bestrafung maßgebliche Recht.[66]
b) Materielles Strafrecht
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Mit dem „Gesetz, das zur Zeit der Tat gilt“, ist das gesamte sachliche Strafrecht gemeint, das die Zulässigkeit und die Art und Weise der Bestrafung bestimmt.[67] Dazu gehören unstreitig die Straftatbestände des Besonderen Teils einschließlich der Strafrahmen, auch wenn in § 2 Abs. 1 StGB nur von der „Strafe und ihre(n) Nebenfolgen“ und nicht von der Strafbarkeit die Rede ist. Auch Strafzumessungsregeln unterfallen § 2 StGB.[68]
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Sodann sind die Vorschriften des Allgemeinen Teils zu nennen,[69] von denen die Strafbarkeit abhängt, so z.B. die Vorschriften über den Versuch, §§ 22 bis 24 StGB,[70] über Täterschaft und Teilnahme, §§ 25 bis 31 StGB,[71] über Rechtfertigungs- und Entschuldigungsgründe, die im Strafgesetzbuch (§§ 32 bis 35 StGB)[72] oder im Bürgerlichen Gesetzbuch[73] geregelt sein können oder die als ungeschriebene Rechtfertigungs- und Entschuldigungsgründe zu berücksichtigen sind. Weiterhin Strafaufhebungs- und Strafausschließungsgründe.[74] Alle diese Regelungen bestimmen das Tatzeitrecht mit.[75]
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Erfasst sind weiterhin Verwertungsverbote nach dem Bundeszentralregistergesetz,[76] das Strafanwendungsrecht,[77] insbesondere die §§ 3 bis 7 StGB, da auch sie jedenfalls das Ausmaß der Geltung des sachlichen Rechts bestimmen,[78] sowie – wegen ihres Doppelcharakters als Strafaufhebungsgrund und Verfahrenshindernis – die Amnestie.[79]
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Außerdem gilt § 2 Abs. 1 StGB für die Regelungen des Allgemeines Teils, welche die Rechtsfolgen der Tat betreffen, so z.B. die Regelungen über die Anrechnung von Untersuchungshaft nach § 51 StGB[80] und die Bildung einer Gesamtstrafe aus Freiheitsstrafe und Geldstrafe.[81] Als „Strafe und ihre Nebenfolgen“ gelten alle „staatlichen Maßnahmen, die eine missbilligende hoheitliche Reaktion auf ein schuldhaftes Verhalten enthalten“[82], so z.B. ehrengerichtliche Maßnahmen[83] oder jugendstrafrechtliche Sanktionen[84] (§§ 5 ff. JGG und 16a JGG[85]) sowie die Urteilsbekanntmachung und die Mehrerlösabführung (§§ 8 ff. WiStG), weiterhin die Kronzeugenregelung nach § 46b StGB.[86]
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Schließlich gehören zum gesamten sachlichen Rechtszustand die Ausfüllungsnormen von Strafblanketten[87] sowie sämtliche sonstigen außerstrafrechtlichen Bezugsnormen. Wenn eine außerstrafrechtliche Norm geändert wird und dies zu einer Verschärfung der Rechtslage führt, die zur Zeit der Tat nicht gegolten hat, ist stets auf das zur Zeit der Tat geltende mildere Recht abzustellen. Die Verschärfung darf sich nicht zu Lasten des Täters auswirken.
c) Strafverfahrensrecht
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Strafprozessuale Normen, welche die Verfolgbarkeit regeln, unterliegen nach h.M. in Rechtsprechung und Literatur nicht dem Rückwirkungsverbot des § 1 StGB, da es schon nach dem Wortlaut auf die gesetzliche Bestimmtheit der Strafbarkeit, nicht aber der Verfolgbarkeit ankomme.[88] Daher sollen prozessrechtliche Vorschriften auch nicht zu den Gesetzen im Sinne des § 2 StGB gehören.[89] Dies soll insbesondere für rein formelle Ordnungsvorschriften des Prozessrechts gelten, die sich nicht gestaltend auf die Rechtsposition des Beschuldigten auswirken,[90] sowie für die Prozessvoraussetzungen.[91] Verfahrensvorschriften ergreifen hiernach grundsätzlich nach ihrem Inkrafttreten – vorbehaltlich besonderer gesetzlicher Übergangsregelungen (vgl. Art. 308, 309 EGStGB) – ipso jure auch solche Verfahren, die bereits eingeleitet sind.[92] Der BGH hat bezüglich des Verfahrensrechts den Grundsatz aufgestellt:[93] „Neues Verfahrensrecht gilt, soweit nicht ausdrücklich etwas anderes bestimmt ist, auch für bereits anhängige Verfahren. Es erfasst sie in der Lage, in der sie sich beim Inkrafttreten der neuen Vorschriften befinden; anhängige Verfahren sind nach diesen weiterzuführen. Dieser Grundsatz gilt nicht nur für Rechtsvorschriften, die das Verfahren des Gerichts regeln, sondern auch für Bestimmungen, welche die Stellung von Verfahrensbeteiligten im Prozess, ihre Befugnisse und Pflichten betreffen, sowie für Vorschriften über die Vornahme und Wirkungen von Prozesshandlungen hängt nicht vom Ort der gesetzlichen Regelung ab, sondern allein von deren Charakter.“
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Die Rechtsprechung geht deshalb davon aus, dass eine Verkürzung der Verjährungsfrist nach Begehung der Tat – vorbehaltlich besonderer Regelungen (vgl. Art. 309 EGStGB) – nicht dem Rückwirkungsverbot unterliegt und deshalb zu Lasten des Täters zu berücksichtigen ist. Sie soll in jedem Fall zurückwirken, sei es nach prozessrechtlichen oder sachlich rechtlichen Grundsätzen.[94] Abweichend vom früheren Recht[95] kann die mit einer Verkürzung der Verjährungsfrist verbundene Milderung des sachlichen Rechts eine nach altem Recht wirksame Unterbrechung der Verjährung allerdings nicht mehr gegenstandslos machen (§ 78c Abs. 5 StGB). Gleiches soll für eine rückwirkende Änderung des Strafantragserfordernisses gelten.[96]
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Demgegenüber nimmt ein Teil der Literatur an, grundsätzlich unterliege das gesamte Verfahrensrecht und damit auch § 2 Abs. 1 StGB dem Rückwirkungsverbot des Art. 103 Abs. 2 GG.[97] Das Zugriffsrecht des Staates auf den Straftäter dürfe nach Begehung der Tat nicht ausgedehnt werden.[98] Hiervon sollen nur Vorschriften ausgenommen sein, die ausschließlich den formalen Verfahrensablauf und die Einrichtung der Gerichte betreffen.[99]
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Eine zunehmend an Boden gewinnende Meinung in der Literatur[100] will zumindest Verfahrensvoraussetzungen dem Rückwirkungsverbot unterwerfen, soweit ihnen Strafwürdigkeits- oder Strafbedürftigkeitserwägungen zugrunde liegen,[101] bzw. wenn der Gesetzgeber eine Neubewertung der Tat durch die Gesetzesänderung vorgenommen hat.[102] Denn die einfach-rechtliche Unterscheidung zwischen Strafrecht und Strafprozessrecht, zwischen Strafbarkeit und Verfolgbarkeit ist für die Bestimmung des Anwendungsbereichs des Art. 103 Abs. 2 GG nicht verbindlich. Auszugehen ist vielmehr von der staatstheoretisch-verfassungsrechtlichen Wurzel des „nulla-poena“-Prinzips und dessen Ratio, die im Verbot der nachträglichen Umbewertung einer Tat zu Lasten des Täters zu sehen ist. Geht man bei der Verjährung davon aus, dass sie auch materiell-rechtlichen Charakter hat, weil sie nach der Schwere des Delikts, dem vom Gesetzgeber angedrohten Strafrahmen abhängig ist, unterliegt sie Art. 103 Abs. 2 GG und damit auch § 2 Abs. 1 StGB.[103]
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Gleiches muss für die rückwirkende Beseitigung des Strafantragserfordernisses gelten, weil hierdurch ein staatliches Bestrafungsrecht erst nachträglich geschaffen wird.[104] Dies muss jedenfalls gelten, wenn die Strafantragsfrist abgelaufen ist. Weiterhin muss