Handbuch des Strafrechts. Jan C. Joerden
den vom Gesetzgeber in dieser Hinsicht verfolgten Regelungszwecken zusammenhängen, bei der Anwendung des Tatzeitrechts bleiben (Rn. 78 ff.). Eine solche Durchbrechung des Meistbegünstigungsprinzips sieht Art. 49 Abs. 1 S. 3 GRCh allerdings nicht vor.
d) Sonderregelung für Verfall, Einziehung und Unbrauchbarmachung
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Für die gegen das Eigentum gerichteten Sanktionen des Verfalls, der Einziehung und der Unbrauchbarmachung, die nach der Gliederung des Strafgesetzbuchs weder den Strafen und Nebenfolgen noch den Maßregeln der Besserung und Sicherung zuzuordnen sind, sondern mit den Maßregeln zur Gruppe der „Maßnahmen“ (§ 11 Nr. 8 StGB) gehören, gelten die vorgenannten Grundsätze gemäß § 2 Abs. 5 StGB entsprechend (Rn. 83).
e) Sonderregelung für Maßregeln der Besserung und Sicherung
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§ 2 Abs. 6 StGB sieht für Maßregeln der Besserung und Sicherung vor, dass nach dem Gesetz zu entscheiden ist, das zur Zeit der Entscheidung gilt, und schließt damit das Eingreifen des Rückwirkungsverbots grundsätzlich aus, gestattet aber abweichende gesetzliche Regelungen (Rn. 84 ff.). Damit wird im Bereich der Prävention ermöglicht, flexibel vorzugehen und neue Vorstellungen sofort durchzusetzen, um eine zeitgerechte Prävention zu erreichen.[38]
2. Zeitlicher Geltungs- und Anwendungsbereich von Strafgesetzen
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Der zeitliche Geltungsbereich der Strafgesetze wird durch verschiedene Grundsätze geprägt: Es geht um das Zusammenspiel des Grundsatzes „lex posterior derogat legi priori“ mit dem Grundsatz „nullum crimen sine lege“, speziell in seinen Ausprägungen des Gesetzlichkeitsprinzips und des Rückwirkungsverbots, und weiterhin mit dem „lex mitior“-Grundsatz.[39] Der lex posterior-Grundsatz ist ein staatsrechtlicher Grundsatz, „nullum crimen, nulla poena sine lege“ hat Verfassungsrang (Art. 103 Abs. 2 GG) und das Milderungsgebot hat nach h.M. in Deutschland den Rang einfachen Rechts, während es in der Grundrechtscharta als Verfassungsprinzip genannt wird.
a) Inkrafttreten und Derogation von Gesetzen
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Strafrechtliche Gesetzesänderungen richten sich nach den allgemeinen Regeln über das Inkrafttreten und die Derogation von Gesetzen.[40] Für ihre Geltung müssen alle Gesetze von dem zuständigen Organ in einem ordnungsgemäßen Verfahren erlassen, ausgefertigt und in der vorgeschriebenen Form verkündet worden sein (Art. 82 GG). Außerdem müssen sie in Kraft getreten und geblieben sein und dürfen nicht in Widerspruch zu einer geltenden ranghöheren Rechtsquelle stehen.[41]
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Die Derogation von Gesetzen, das „Außergeltungtreten“, kann durch Zeitablauf, durch förmliche Aufhebung oder nachträgliche Kollision mit einer Norm gleichen oder höheren Ranges erfolgen. Dabei stellt das Außerkrafttreten durch Zeitablauf eine Ausnahmeerscheinung dar, die voraussetzt, dass die Geltungsdauer gesetzlich befristet war (sog. Zeitgesetz im engeren Sinne[42]). In der Regel setzt die Derogation von Gesetzen einen späteren Rechtssetzungsakt des Gesetzgebers voraus, durch den die bisher bestehende Vorschrift aufgehoben wird. Hierfür besteht zum einen die Möglichkeit, dass der Gesetzgeber eine Norm durch einen späteren Rechtsakt ausdrücklich aufhebt, und zum anderen, dass er die Rechtslage durch einen ranggleichen oder ranghöheren Rechtssatz bestimmt. Da die Geltung eines Gesetzes auf dem Willen des Gesetzgebers beruht und durch Verabschiedung der „lex posterior“ der gesetzgeberische Wille, der für die Geltung des alten Rechts konstitutiv war, aufgegeben wird, kommt das alte Gesetz grundsätzlich ganz in Wegfall. Nur die neue Regelung beansprucht alleinige und umfassende Geltung.
b) Dogmatische und systematische Konzeption des § 2 StGB
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Die dogmatische und systematische Konzeption, die § 2 StGB zugrunde liegt, ist nach wie vor umstritten. Nach h.M. wird durch § 2 Abs. 1 StGB die Anwendung des zur Tatzeit geltenden Rechts als Grundsatz angeordnet; dieser Norm wird damit die Funktion einer speziellen strafrechtlichen Rechtsgeltungsregel zugesprochen. Die Gegenposition hält an den allgemeinen staatsrechtlichen Rechtsgeltungsregeln auch für das Strafrecht fest und sieht in § 2 StGB eine spezielle Rechtsanwendungsregel für Strafgesetze.
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Die h.M. in Rechtsprechung und Literatur verortet den Kern der gesetzlichen Regelung in § 2 Abs. 1 StGB und versteht die Anwendung des zur Zeit der Tat geltenden Gesetzes als Grundprinzip des intertemporalen Rechts.[43] Begründet wird dies damit, dass dem Rückwirkungsverbot im Strafrecht eine Sonderrolle zukomme, weil es den Richter zwinge, sich am Tatzeitrecht zu orientieren.[44] Das Strafgesetz diene dem Bürger als Grundlage, sein Verhalten eigenverantwortlich so einzurichten, dass er eine Strafbarkeit vermeidet.[45] Der Normbefehl könne einen Täter nur motivieren, wenn er bereits zur Tatzeit Geltung gestanden habe.[46] § 2 Abs. 1 StGB wird damit die Funktion einer Rechtsgeltungsregel für das Strafrecht zugesprochen, die ergänzend neben den lex posterior-Grundsatz tritt.
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Die Gegenposition stellt maßgeblich auf das zur Entscheidungszeit geltende Gesetz ab[47] und begründet dies damit, dass bereits das Rückwirkungsverbot eine Ausnahme von dem allgemeinen Prinzip bildet, dass der Richter das jeweils neueste Recht anzuwenden hat, um legitimerweise in Grundrechte des Straftäters eingreifen zu können. Außerdem liege der Vorrang auf dem zur Entscheidungszeit geltenden Gesetz jedenfalls in dem Sinne, dass die Geltung der Norm für Altfälle noch im Entscheidungszeitpunkt bestehen muss.[48] Aus den verfassungsrechtlichen Vorgaben des Gesetzlichkeitsprinzips (Art. 103 Abs. 2 GG) folgt jedoch, dass bereits im Zeitpunkt der Tat das sanktionsfähige Verhalten und der Sanktionsrahmen gesetzlich festgelegt sein müssen. Insofern hat das Tatzeitrecht nicht nur eine limitierende, sondern eine komplementäre, die Strafbarkeit begründende Funktion.[49] Deshalb erfordern die Absätze 1, 3 und 4 des § 2 StGB eine zusammenfassende Würdigung.
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Für letztere Auffassung spricht, dass das lex posterior-Prinzip als staatsrechtlicher Grundsatz nicht durch § 2 Abs. 1 StGB durchbrochen und modifiziert werden kann. Die allgemeinen Regeln über das Inkrafttreten und die Derogation von Gesetzen gelten für alle Gesetze, auch für Strafgesetze. Sie beruhen auf staatsrechtlichen Grundlagen und sind daher der Entscheidungsbefugnis des Gesetzgebers vorgegeben. Die Geltungsregeln werden deshalb durch § 2 Abs. 1 StGB nicht ersetzt oder modifiziert, sondern bleiben unberührt. § 2 Abs. 1 StGB regelt nur den zeitlichen Anwendungsbereich.[50] Im Einzelnen:
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In einer Demokratie ist der Wille des Volkssouveräns unverzichtbare Grundlage für die Geltung eines Gesetzes. Dieser Wille entfällt durch ein späteres Gesetz. Wenn durch ein allgemeines Gesetz, wie es § 2 Abs. 1 StGB ist, dieser Grundsatz generell außer Kraft gesetzt werden soll, scheitert dies bereits daran, dass staatsrechtliche Grundlagen wie der Grundsatz „lex posterior derogat legi priori“ einer generellen, nicht nur einen konkreten Einzelfall betreffenden Entscheidung des Gesetzgebers entzogen sind. Der Gesetzgeber kann lediglich im Einzelfall anordnen, dass ein bestimmtes Gesetz weitergelten soll und so in Bezug auf Einzelregelungen die Fortgeltung der bisherigen Regelung anordnen. Ein allgemeines Gesetz, das den Grundsatz „lex posterior derogat legi priori“ für ein ganzes Rechtsgebiet wie das