Europäisches Marktöffnungs- und Wettbewerbsrecht. Peter Behrens
verfügt, vorbehaltlich etwaiger Freistellungen von den Regeln des Binnenmarkts, die im AEUV enthalten sein mögen.
2. Einzelne Gemeinschaftspolitiken
Literatur:
Schwemer Die Bindung des Gemeinschaftsgesetzgebers an die Grundfreiheiten (1995); Scheffer Die Marktfreiheiten des EG-Vertrages als Ermessensgrenze des Gemeinschaftsgesetzgebers (1997); Hatje Wirtschaftsverfassung im Binnenmarkt, aaO 828 ff.; Bieber/Epiney/Haag/Kotzur Die Europäische Union – Europarecht und Politik (12. Aufl. 2016) §§ 22–32, 507–641.
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Art. 3 Abs. 3 EUV definiert eine Reihe von Unionszielen, die über allgemein wirtschaftspolitische Ziele hinausgehen. Dem entsprechend führt der AEUV zahlreiche spezifische Politikbereiche auf, für die zum Teil auch eigene Zuständigkeiten der Union bestehen. Diese Zuständigkeiten lassen sich danach unterscheiden, ob die Union gem. Art. 4 AEUV selbst befugt ist, eigene Politiken zu formulieren und durchzusetzen (a), oder ob die Union gem. Art. 6 AEUV die entsprechenden mitgliedstaatlichen Politiken nur koordinieren, unterstützen oder ergänzen kann (b). Diese Unterscheidung ist für die Frage der Vereinbarkeit der jeweiligen Politiken mit der Errichtung offener und wettbewerbsorientierter Märkte erheblich.[40]
a. Eigenständige Gemeinschaftspolitiken
(1) Marktordnungspolitik
Literatur:
Priebe/Scheper/v.Urff Agrarpolitik in der EG (1984); Basedow (Hrsg.) Europäische Verkehrspolitik (1987); Schneider Die gemeinsame Fischereipolitik der Europäischen Gemeinschaften (1988); Thiele Das Recht der Gemeinsamen Agrarpolitik der EG (1997); Epiney/Gruber Verkehrsrecht in der EU (2001); Oppermann/Classen/Nettesheim Europarecht (6. Aufl. 2015) § 24: Landwirtschaft und Fischerei, 410/§ 26: Verkehr, 436; Bieber/Epiney/Haag/Kotzur Die Europäische Union (12. Aufl. 2016) § 23: Landwirtschafts- und Fischereipolitik, 543 / § 24: Verkehrspolitik und Transeuropäische Netze, 555.
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Die Union hat von Anfang an über gewisse Kompetenzen für eine marktkorrigierende Politik verfügt, und zwar im Bereich Landwirtschaft (Art. 38–44 AEUV). Der Grund hierfür liegt darin, dass die Mitgliedstaaten insoweit nicht bereit waren, ihre vorhandenen nationalen Regulierungssysteme zugunsten des Grundsatzes offener Märkte mit freiem Wettbewerb aufzugeben, so dass nur die Vergemeinschaftung der bisher nationalen Regulierungspolitiken in Betracht kam. Die Ziele der Landwirtschaftspolitik der Union umfassen gem. Art. 39 Abs. 1 AEUV die Einkommenssicherung der Landwirte, die Stabilisierung der Märkte, die Versorgungssicherheit und die Angemessenheit der Verbraucherpreise. Die Landwirtschaftspolitik dient also primär verteilungspolitischen Zielen und nicht dem Effizienzziel. Die Einkommenssicherung der Landwirte wurde lange Zeit indirekt über die künstliche Stützung der Preise für landwirtschaftliche Produkte betrieben. Als wichtigstes Instrument dafür wurden gem. Art. 40 AEUV auf Unionsebene Marktordnungen für landwirtschaftliche Produkte eingeführt, in denen der Absatz und die Preise festgelegt wurden. Sie haben zwar nicht die Binnenmarktvorschriften außer Kraft gesetzt (Art. 38 Abs. 2 AEUV), aber weitestgehend den Preisbildungsmechanismus und insoweit auch die Wettbewerbsregeln (Art. 42 AEUV). Die Agrarmärkte wurden auf diese Weise vom marktförmigen Allokationsverfahren abgekoppelt. Das hat zu erheblichen Fehlanreizen und zu einer massiven Überproduktion geführt, die nur mit enormem finanziellem Aufwand neutralisiert werden konnte. In den letzten Jahren ist es daher zu einer grundsätzlichen Neuorientierung der gemeinschaftlichen Landwirtschaftspolitik gekommen. Das Einkommen der Landwirte wird jetzt zunehmend durch Direktzahlungen (Prämien) zu sichern versucht, die unabhängig von den produzierten Mengen sind. Die Folge ist eine stärkere Orientierung der landwirtschaftlichen Produktion an den Erfordernissen des Marktes.
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Etwas anders verhält es sich mit der Verkehrspolitik der Union (Art. 90–100 AEUV). Zwar war die Ausgangslage auch im Bereich des Verkehrs durch rigide nationale Regulierungssysteme in den Mitgliedstaaten gekennzeichnet, die insbesondere das Angebot durch Marktzutrittsbeschränkungen und Kontingentierungen sowie die freie Preisbildung für Verkehrsdienstleistungen beschränkt haben. Die daraus resultierende gegenseitige Abschottung der nationalen Verkehrsmärkte ist aber nur in begrenztem Umfang durch die Vergemeinschaftung der Regulierungssysteme überwunden worden. Die Union hat sich im Verkehrsbereich im Wesentlichen auf die Koordinierung (Harmonisierung) der mitgliedstaatlichen Regulierungen beschränkt. Zu einer umfassenden gemeinschaftlichen Marktordnungspolitik ist es nicht gekommen. Stattdessen hat die Union im Verkehrsbereich stärker auf die Öffnung der nationalen Märkte hingewirkt. Die „gemeinsame Verkehrspolitik“ (Art. 90 AEUV) erfüllt daher nur teilweise eine marktkorrigierende Funktion; sie dient zum überwiegenden Teil der Verwirklichung des Grundsatzes offener Märkte mit freiem Wettbewerb.
(2) Strukturpolitik
Literatur:
Leibrock Verfassungs- und europarechtliche Probleme der Regionalförderung (1989); Frees Das neue industriepolitische Konzept der Europäischen Gemeinschaft, EuR 1991, 281; Hellmann Europäische Industriepolitik (1994); Oberender/Daumann Industriepolitik (1995); Sturm (Hrsg.) Europäische Forschungs- und Technologiepolitik und die Anforderungen des Subsidiaritätsprinzips (1996); Simon Industriepolitik (1997); Axt EU-Strukturpolitik. Einführung in die Politik des wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalts (2000); Eckstein Regionale Strukturpolitik als europäischer Kooperations- und Entscheidungsprozess (2001); Eikenberg Der Europäische Forschungsraum: Ein Kompetenzproblem? EuR 2008, 125; Lorz/Payandeh Die Institutionalisierung des Europäischen Forschungsraums (2012); Godt Forschungs-, Wissenschafts- und Technologiepolitik, in: Dauses (Hrsg.) Handbuch des EU-Wirtschaftsrechts (Loseblatt), Abschnitt N; Bieber/Epiney/Haag/Kotzur Die Europäische Union (12. Aufl. 2016) § 25: Energiepolitik, 568 / § 26: Industriepolitik, 576 / § 27: Struktur- und Kohäsionspolitik, 581 / § 28: Forschung, Technologie und Raumfahrt, 588.
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Strukturpolitik hat grundsätzlich zum Ziel, die Verteilung der produktiven wirtschaftlichen Ressourcen auf verschiedene Regionen (Regionalpolitik) bzw. auf verschiedene Wirtschaftssektoren (Industriepolitik) zu beeinflussen. Demgemäß sind eine regionale und eine sektorale Strukturpolitik zu unterscheiden. Beide stehen unvermeidlich in einem Spannungsverhältnis zum System unverfälschten Wettbewerbs. Strukturpolitische Steuerung basiert auf der Annahme, dass es nicht den Wettbewerbsmärkten allein überlassen werden kann, über die regionale bzw. sektorale Allokation der Produktivkräfte zu entscheiden. Der ursprüngliche unionsrechtliche Ansatz war davon ausgegangen, dass die Errichtung des Gemeinsamen Marktes auch die „harmonische Entwicklung“ der mitgliedstaatlichen Volkswirtschaften fördern und „den Abstand zwischen einzelnen Gebieten und den Rückstand weniger begünstigter Gebiete verringern“ werde.[41] Ähnliches galt für die sektorale Verteilung des wirtschaftlichen Potentials in der Union. Allerdings bestand darüber von Anfang an kein Konsens unter den Mitgliedstaaten und es nahm das Bestreben auch der Kommission zu, an die Stelle der Marktkräfte politische Entscheidungen zu setzen. So haben im Laufe der Zeit Unionskompetenzen für marktkorrigierende Strukturpolitiken Eingang in die Verträge gefunden.
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Die Regionalpolitik ist inzwischen gem. Art. 3 Abs. 1 lit. c AEUV ein fester Bestandteil der Wirtschaftspolitik der Union. Sie ist an dem in Art. 3 Abs. 3 UAbs. III AEUV erwähnten Ziel der Förderung des wirtschaftlichen, sozialen und territorialen Zusammenhalts sowie der Konvergenz der Wirtschaftsleistungen in der Union orientiert. Mit der Regionalpolitik sollen nach Maßgabe der Art. 174–178 AEUV unionskonforme mitgliedstaatliche Maßnahmen unterstützt oder ergänzt werden. Somit ist die gemeinschaftliche Regionalpolitik