Europäisches Marktöffnungs- und Wettbewerbsrecht. Peter Behrens
am 2. Februar 2005, unterstützt durch den Europäischen Rat vom März 2005, eine Neuformulierung und Konzentration dieser Strategie auf die Ziele Wachstum und Beschäftigung vorgeschlagen.[16] Diese Strategie hat jedoch die in sie gesetzten Erwartungen nicht erfüllt.
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Im Jahre 2010 hat die Kommission ein neues, aber ähnlich ambitioniertes Zehnjahresprogramm „Europa 2020“ vorbereitet,[17] mit dem eine „Vision der europäischen sozialen Marktwirtschaft des 21. Jahrhunderts“ skizziert werden soll. Auf dieser Grundlage hat der Europäische Rat am 17. Juni 2010 eine Strategie für Beschäftigung und intelligentes, nachhaltiges und integratives Wachstum „Europa 2020“ verabschiedet.[18] Sie soll helfen, die Wettbewerbsfähigkeit, die Produktivität, das Wachstumspotenzial, den sozialen Zusammenhalt und die wirtschaftliche Konvergenz zu stimulieren. Abgesehen von Maßnahmen zur Überwindung der aktuellen Finanzkrise durch die Konsolidierung der Staatshaushalte und die Verbesserung der Finanzmarktregulierung und -aufsicht, geht es dem Rat um fünf Kernziele als Richtschnur für das Handeln der Mitgliedstaaten und der Union: die Förderung der Beschäftigung, die Verbesserung der Bedingungen für Innovation, Forschung und Entwicklung, die Erreichung der Klimaschutz- und Energieziele, die Verbesserung des Bildungsniveaus sowie die Förderung der sozialen Eingliederung. Dafür hat der Rat sogar quantifizierte Indikatoren definiert. Im Übrigen soll es jedoch um eine Stärkung der wirtschaftspolitischen Steuerung im Sinne einer Verstärkung der wirtschaftspolitischen Koordinierung gehen. Worauf sich diese Koordination inhaltlich beziehen soll, ist allerdings umstritten. Der Rat hat sich zunächst nur auf gewisse allgemeine Leitlinien beschränkt und die Konkretisierung einer Arbeitsgruppe sowie der Kommission überlassen. Teils wird die Auffassung vertreten, die wirtschaftspolitische Koordinierung solle sich an makroökonomischen Indikatoren orientieren, um Ungleichgewichte zwischen den Mitgliedstaaten auszugleichen; teils wird stattdessen die Orientierung der wirtschaftspolitischen Koordination an den Erfordernissen einer stabilitätsorientierten Finanz- und Haushaltspolitik in den Mitgliedstaaten gefordert, um schon die Ursachen für Ungleichgewichte zu beseitigen. Nach wie vor ist somit der Konflikt zwischen einer eher diskretionären und einer eher regelgebundenen Wirtschaftspolitik[19] auf Unionsebene nicht gelöst. Ein als „Six Pack“ bezeichnetes Bündel von sechs Legislativmaßnahmen hat immerhin im Jahre 2011 u.a. auch das Überwachungsverfahren nach Art. 121 AEUV intensiviert, insbesondere durch Präventiv- und Korrekturmaßnahmen zur Vermeidung und Korrektur übermäßiger makroökonomischer Ungleichgewichte.[20]
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Es ist jedoch zu betonen, dass gem. Art. 119 AEUV bei allen Maßnahmen zur Umsetzung dieser wirtschaftspolitischen Strategie sowohl die Mitgliedstaaten als auch die Union an den die Wirtschaftsverfassung der EU kennzeichnenden Grundsatz einer offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb gebunden sind, wodurch nach Art. 120 S. 2 AEUV „ein effizienter Einsatz der Ressourcen gefördert wird“. Die Kommission selbst hatte in ihrem „Aktionsplan staatliche Beihilfen“ von 2005 ausdrücklich anerkannt, dass gerade der Wettbewerb eine wichtige Voraussetzung für die Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Wirtschaft ist, da er ein Umfeld schafft, in dem effizient arbeitende und innovative Unternehmen entsprechend belohnt werden.[21]
5. Finanz- und Haushaltspolitik
Literatur:
Hentschelmann Der Stabilitäts- und Wachstumspakt (2009); Pilz Der europäische Stabilitäts- und Wachstumspakt, ZEuS 2011, 282; Häde Eurorettung zwischen Exekutivprimat und Parlamentsvorbehalt (2012); Bark/Gilles Der ESM in der Praxis: Rechtsgrundlagen und Funktionsweise, EuZW 2013, 367; Oppermann Euro-Rettung und europäisches Recht, NJW 2013, 6.
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Ein wesentlicher Aspekt der allgemeinen Wirtschaftspolitik betrifft die Stabilitätsorientierung der mitgliedstaatlichen Finanz- und Haushaltspolitik. Stabilität bedeutet gem. Art. 119 Abs. 3 AEUV: „stabile Preise, gesunde öffentliche Finanzen und monetäre Rahmenbedingungen sowie eine dauerhafte finanzierbare Zahlungsbilanz“. Damit wird explizit der Zusammenhang zwischen der im Rahmen der Eurozone zentralisierten stabilitätsorientierten Geldpolitik und der nach wie vor in der Kompetenz der Mitgliedstaaten verbliebenen Finanz- und Haushaltspolitik hergestellt. Eine „unsolide“ Haushaltspolitik, dh eine übermäßige Staatsverschuldung, kann Druck in Richtung auf eine expansive stabilitätsgefährdende Geldpolitik der EZB oder gar auf monetäre Staatsfinanzierung auslösen. Um dem entgegen zu wirken, erklärt Art. 123 AEUV die Finanzierung von Staatshaushalten durch die EZB für unzulässig.
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Um etwaige Spannungen zwischen den beiden Politikbereichen zu minimieren, werden der Staatsverschuldung von vornherein Grenzen gesetzt. Art. 126 Abs. 2 stellt dafür auf das Verhältnis des öffentlichen Defizits und des öffentlichen Schuldenstandes zum Bruttoinlandsprodukt (BIP) ab. Im Anschluss an das „Protokoll über das Verfahren bei einem übermäßigen Defizit“[22] sind die entsprechenden Referenzwerte („Maastricht-Kriterien“) 1997 im „Stabilitäts- und Wachstumspakt“[23] definiert worden sind (danach soll das laufende Haushaltsdefizit 3% und der Schuldenstand 60% des BIP nicht übersteigen). Auf diese Weise soll die Vereinbarkeit der mitgliedstaatlichen Finanz- und Haushaltpolitik mit den stabilitätspolitischen Vorgaben der Union gesichert werden. Das in Art. 126 AEUV geregelte Überwachungsverfahren gibt der Kommission die Möglichkeit, diesbezügliches Fehlverhalten der Mitgliedstaaten festzustellen und erforderlichenfalls zu sanktionieren (wobei Vertragsverletzungsverfahren allerdings gem. Art. 126 Abs. 10 AEUV ausgeschlossen sind). Generell sind die Mitgliedstaaten im Hinblick auf die Schuldenfinanzierung ihrer Staatshaushalte der Disziplinierung durch den Zinsmechanismus der Kapitalmärkte ausgesetzt. Damit diese Wirkung nicht unterlaufen werden kann, ist den Mitgliedstaaten untersagt, sich bei den Zentralbanken „monetär“ zu finanzieren (Art. 123 AEUV), sich „bevorrechtigten Zugang“ zu den Ressourcen von Finanzinstituten zu verschaffen (Art. 124 AEUV) oder die Schuldenhaftung einseitig durch Verlagerung auf die Union bzw. die anderen Mitgliedstaaten zu externalisieren („bail out“-Verbot des Art. 125 AEUV) und dadurch die wahren Risiken der Kreditfinanzierung zu verschleiern. Möglich bleibt unter bestimmten Voraussetzungen allenfalls der Rückgriff auf freiwillig gewährte Kredite anderer Mitgliedstaaten (siehe dazu im Folgenden).
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Der ursprüngliche „Stabilitäts- und Wachstumspakt“ hat allerdings sein Ziel nicht erreicht. Selbst nach einer faktischen Aufweichung der Stabilitätskriterien durch die Reform von 2005,[24] ist das Überwachungsverfahren nicht konsequent angewendet worden. So konnte im Rahmen der 2008 einsetzenden allgemeinen Finanzkrise in einigen Mitgliedstaaten eine Staatsschuldenkrise von dramatischen Ausmaßen nicht verhindert werden. Die Folgen (bis hin zu einem potentiellen Staatsbankrott) wurden mit außergewöhnlichen Hilfsmaßnahmen abgemildert (zunächst in Form koordinierter bilateraler Stützungskredite von Seiten anderer Mitgliedstaaten, später durch die Errichtung eines „Rettungsschirms“ in Gestalt eines befristeten „Europäischen Finanzierungsmechanismus“ bestehend aus einer „Europäischen Finanzstabilisierungsfazilität – EFSF“ und einem „Europäischen Finanzstabilisierungsmechanismus – EFSM“, sowie schließlich – auf der Grundlage des 2011 neu eingeführten Art. 136 Abs. 3 AEUV[25] – in Form des auf Dauer gestellten „Europäischen Stabilitätsmechanismus – ESM“ auf völkervertraglicher Grundlage).[26] Derartige freiwillige Hilfsmaßnahmen der Mitgliedstaaten sind nach Auffassung des EuGH[27] trotz des „bail out“-Verbots des Art. 125 AEUV nicht unzulässig, sofern sie für die Sicherung der finanziellen Stabilität des gesamten Euroraums unerlässlich sind und mit Auflagen versehen werden, die sich eignen, den hilfsbedürftigen Staat zu einer soliden Haushaltspolitik anzuhalten und so das Risiko des moral hazard im Hinblick auf die künftige Staatsverschuldung auszuschalten. Wenngleich die Rechtsprechung damit