Europäisches Marktöffnungs- und Wettbewerbsrecht. Peter Behrens
Hatje/Terhechte (Hrsg.) aaO; Mestmäcker/Schweitzer aaO.
1. Teil Grundlagen › 1. Kapitel Der Binnenmarkt als Systementscheidung › § 5 Politische Steuerung
§ 5 Politische Steuerung
Inhaltsverzeichnis
I. Allgemeine Wirtschaftspolitik
II. Spezifische Gemeinschaftspolitiken
Literatur:
Ogus Regulation. Legal Form and Economic Theory (1994); Majone Regulating Europe (1996); Müller-Graff Die Verdichtung des Binnenmarktrechts zwischen Handlungsfreiheiten und Sozialgestaltung, EuR 2002, Beiheft 1, 7; Hatje Wirtschaftsverfassung im Binnenmarkt, in: Bogdandy/Bast (Hrsg.) Europäisches Verfassungsrecht (2. Aufl. 2009) 801, 823 ff.; Nowak Binnenmarktziel und Wirtschaftsverfassung der EU vor und nach dem Reformvertrag von Lissabon, in: Schwarze/Hatje (Hrsg.) Der Reformvertrag von Lissabon, EuR 2009, Beiheft 1, 129 ff., 162 ff.; Epiney Gemeinwohlinteressen und Grundfreiheiten: Zum Gestaltungsspielraum der Mitgliedstaaten bei der Rechtfertigung des Eingriffs in Grundfreiheiten, in: FS Müller-Graff (2015) 467; Bieber/Epiney/Haag/Kotzur Die Europäische Union – Europarecht und Politik (12. Aufl. 2016) §§ 21–32, 507–641.
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Auch eine offene Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb ist in bestimmten Hinsichten auf eine hoheitliche Steuerung angewiesen. Im Hinblick auf den Binnenmarkt sind die dafür erforderlichen Kompetenzen zwischen den Mitgliedstaaten und der Gemeinschaft verteilt. Nach den in Art. 4 Abs. 1 iVm Art. 5 EUV niedergelegten Grundsätzen der begrenzten Einzelermächtigung und der Subsidiarität liegen die Zuständigkeiten grundsätzlich bei den Mitgliedstaaten. Gewisse Zuständigkeiten weist der AEUV allerdings auch der Union zu. Sie sind schon in der Vergangenheit im Zuge der Vertragsänderungen von Maastricht und Amsterdam nicht unwesentlich erweitert worden. Somit stellt sich nicht nur für die Mitgliedstaaten, sondern auch für die Union die grundsätzliche Frage nach dem Verhältnis zwischen der politischen Steuerung einerseits und der Errichtung offener Wettbewerbsmärkte andererseits. Diese Frage ist umso dringender geworden, je intensiver der Europäische Rat – nachdem die „Lissabon-Strategie“ von 2000 ihr Ziel, die Europäische Union bis 2010 „zum wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum der Welt“ zu entwickeln,[1] verfehlt hat – inzwischen eine neue Strategie für Beschäftigung und intelligentes, nachhaltiges und integratives Wachstum „Europa 2020“[2] verfolgt (siehe hierzu ausführlicher weiter unten Rn. 48). Auch dabei soll es primär um nachhaltiges Wachstum und Beschäftigung gehen. Es ist von grundlegender Bedeutung, ob solche strategischen Ziele durch die Stärkung der Wettbewerbskräfte im Binnenmarkt oder durch politische Steuerung erreicht werden sollen.
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Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass auch die Union in allen ihren Tätigkeiten grundsätzlich an das Binnenmarkt- und Wettbewerbsrecht gebunden ist. Das hat der EuGH bereits 1985 in seiner Altöle-Entscheidung, in der es um die Vereinbarkeit einer Richtlinie mit dem EG-Vertrag ging, folgendermaßen zum Ausdruck gebracht:[3]
„Die Grundsätze des freien Warenverkehrs und des freien Wettbewerbs sowie die grundrechtliche Handelsfreiheit stellen allgemeine Grundsätze des Gemeinschaftsrechts dar, über deren Einhaltung der Gerichtshof wacht. Die erwähnten Vorschriften der Richtlinie sind also anhand dieser Grundsätze zu prüfen.“
Dies bedeutet vor allem, dass die Union mit Maßnahmen zur Durchführung der Unionspolitiken grundsätzlich ebensowenig wie die Mitgliedstaaten in die Verkehrsfreiheiten, die für den Binnenmarkt konstitutiv sind, oder in das System unverfälschten Wettbewerbs in ungerechtfertigter Weise eingreifen darf. Allerdings hat der EuGH den Unionsorganen insoweit ein nicht unerhebliches Beurteilungs- und Gestaltungsermessen eingeräumt und die gerichtliche Kontrolle von Eingriffen nicht auf „die Würdigung der sich aus den wirtschaftlichen Tatsachen oder Umständen ergebenden Gesamtlage“ erstreckt.[4] Die Systementscheidung zugunsten einer offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb (Art. 119 AEUV) begründet ein Regel-Ausnahmeverhältnis von wirtschaftlicher Handlungsfreiheit und politischer Steuerung.[5] Die Union trifft insoweit ebenso wie die Mitgliedstaaten jedenfalls eine Rechtfertigungslast im Sinne des Kriteriums der Verhältnismäßigkeit.[6] Es dürfen weder Barrieren für den zwischenstaatlichen Wirtschaftsverkehr errichtet noch wettbewerbsverzerrende Eingriffe vorgenommen werden, die für die Erreichung der jeweiligen Ziele nicht geeignet, erforderlich und angemessen sind. Kurz: Auch die Union muss ihre politischen Ziele im Prinzip unter den Bedingungen offener Wettbewerbsmärkte realisieren.
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Diese weitreichende Aussage steht allerdings unter dem Vorbehalt der besonderen Regelungen des AEUV. Das genaue Verhältnis der hoheitlichen Steuerung zum Grundsatz einer offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb (Art. 119 AEUV) ist im jeweiligen Kontext der Verkehrsfreiheiten und der Wettbewerbsregeln zu bestimmen.[7] Dieses Verhältnis wird aber auch in den Bestimmungen des AEUV angesprochen, in denen der Union bestimmte Aufgaben auf Sachgebieten zugewiesen werden, denen das Potential zur hoheitlichen Steuerung der Wirtschaft innewohnt. Im Folgenden ist insoweit zu unterscheiden zwischen Unionskompetenzen auf dem Gebiet der allgemeinen Wirtschaftspolitik (I.), den Unionspolitiken, die spezifische Ziele verwirklichen sollen (II.), und der Außenwirtschaftspolitik (III.).
1. Funktion
Literatur:
Streit Theorie der Wirtschaftspolitik (6. Aufl. 2005); Donges/Freytag Allgemeine Wirtschaftspolitik (3. Aufl. 2009).
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Die Wirtschaftspolitik beruhte in der Entstehungsphase der Europäischen Gemeinschaft auf der Prämisse, dass marktwirtschaftliche Prozesse inhärent krisenanfällig seien und regelmäßig sowohl konjunkturelle Überhitzungsphasen als auch Rezessionen hervorbrächten. Solche Krisen wurden aufgrund der gesamtwirtschaftlichen Theorie von Keynes als Ungleichgewichte zwischen dem gesamtwirtschaftlichen Angebot von Gütern und Leistungen und der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage interpretiert. Diese Ungleichgewichte wurden als Ursache für Inflationen (im Falle eines Nachfrageüberhangs) bzw. Arbeitslosigkeit (im Falle einer Nachfragelücke) angesehen. Man war der Überzeugung, dass solche Ungleichgewichte durch staatliche Steuerung der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage (dh durch „Prozesspolitik“)[8] überwunden bzw. vermieden werden könnten. Stabilisierungspolitik im Sinne einer solchen „Prozesspolitik“ war an einem Zielbündel orientiert, das die Geldwertstabilität, ein möglichst hohes Beschäftigungsniveau, ein ausgewogenes Wirtschaftswachstum sowie das außenwirtschaftliche Gleichgewicht umfasste. Dieses Zielbündel wurde auch in Art. 104 des ursprünglichen EWG-Vertrags von Rom aufgenommen.[9] Die Instrumente, mit denen diese Ziele im einzelnen – von den Mitgliedstaaten, koordiniert durch die Gemeinschaft (Art. 105 des EWG-Vertrags von Rom) – verfolgt werden sollten, waren vor allem solche der Geld- und Währungspolitik, der Finanz- und Haushaltspolitik, der Beschäftigungspolitik, der Wachstumspolitik und der Konjunkturpolitik. All diese Politiken sollten gezielt bestimmte makro-ökonomische Größen (insbesondere die Geldmenge, die Staatsausgaben, die Staatseinnahmen, die Wechselkurse) beeinflussen, um das gesamtwirtschaftliche Angebot und die gesamtwirtschaftliche