Europäisches Marktöffnungs- und Wettbewerbsrecht. Peter Behrens
herleiten können, die von den nationalen Rechtsanwendungsorganen zu beachten sind. Die Grundlage für diesen Grundsatz hat der EuGH darin gesehen, dass die Mitgliedstaaten durch die Gründung der EG zum Zweck der Errichtung eines Gemeinsamen Markts ihre Souveränitätsrechte eingeschränkt haben. In demselben Maße, in dem die Mitgliedstaaten auf die hoheitliche Steuerung des grenzüberschreitenden Wirtschaftsverkehrs verzichtet haben, sind den Privatrechtssubjekten die wirtschaftlichen Handlungsmöglichkeiten zugewachsen, die für den grenzüberschreitenden wirtschaftlichen Austausch in einem Gemeinsamen Markt bzw. Binnenmarkt unerlässlich sind. Der AEUV beinhaltet also – insbesondere nach Maßgabe seiner Bestimmungen über die wirtschaftlichen Freiheiten (Freiheit des Waren- und Dienstleistungsverkehrs, Arbeitnehmerfreizügigkeit und Niederlassungsfreiheit, Kapital- und Zahlungsverkehrsfreiheit) – den Verzicht der Mitgliedstaaten auf die Beschränkung der privatrechtlich gewährleisteten Möglichkeiten des grenzüberschreitenden wirtschaftlichen Austauschs zwischen Unternehmen und Verbrauchern in der Union. Zugleich formuliert der AEUV Wettbewerbsregeln, die verhindern sollen, dass der Wettbewerb im Binnenmarkt beschränkt wird, und deren unmittelbare Anwendbarkeit seit dem Bosch-Urteil des EuGH[9] aus dem Jahre 1962 ebenfalls feststeht. Darin liegt die ordnungspolitische Grundentscheidung des Unionsrechts.
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Eine weitergehende Frage ist es, ob die Wirtschaftsordnung der EU zugleich den Charakter einer Wirtschaftsverfassung[10] in dem Sinne hat, dass das Unionsrecht die ordnungspolitische Grundentscheidung bezüglich des Verhältnisses von wettbewerblicher und politischer Steuerung der Wirtschaft rechtsverbindlich normiert und sie damit beliebiger Änderungen durch die Mitgliedstaaten oder die Unionsorgane entzieht. Rechtlich gesehen steckt darin die Frage nach dem Rang der Normen, die für die Wirtschaftsordnung der Gemeinschaft konstitutiv sind. Von entscheidender Bedeutung ist in diesem Zusammenhang die Rechtsprechung des EuGH, die den Vorrang des Gemeinschaftsrechts vor dem Recht der Mitgliedstaaten begründet hat. Im Urteil Costa/ENEL[11] hat der EuGH das Vorrangprinzip ebenfalls auf die Überlegung gestützt, dass die Mitgliedstaaten durch den EG-Vertrag Hoheitsrechte auf die Gemeinschaft [jetzt: die Union] übertragen sowie ihre eigenen Hoheitsrechte beschränkt haben mit der Folge, dass die vom Gemeinschaftsrecht [Unionsrecht] begründeten Rechte und Pflichten für die Einzelnen nicht mehr durch einseitige mitgliedstaatliche Maßnahmen rückgängig gemacht werden können. Der Vorrang des Unionsrechts umfasst also gerade die für den Binnenmarkt konstitutiven Normen, die unmittelbar anwendbar sind und die Rechte bzw. Pflichten für die Unternehmen und Verbraucher in der Union begründen. Das gilt wiederum sowohl für die Verkehrsfreiheiten[12] als auch für die Wettbewerbsregeln.[13] Die wirtschaftlichen Freiheiten des Unionsrechts haben somit verfassungsrechtlichen Charakter, zumal sie auch den Schutz der Gemeinschaftsgrundrechte genießen.[14]
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Die EU verfügt also in der Tat über eine Wirtschaftsverfassung, die gem. Art. 119 AEUV offenen und wettbewerbsorientierten Märkten den zentralen Platz in der Wirtschaftsordnung der Union einräumt.[15] Die unionsrechtlichen Normen, die für die Errichtung des Binnenmarkts konstitutiv sind, sind aufgrund des Vorrangprinzips der Disposition mitgliedstaatlicher Politik entzogen. Was für die Mitgliedstaaten gilt, muss allerdings in gleicher Weise auch für die Unionsorgane Geltung besitzen. Die für den Binnenmarkt konstitutiven Regelungen des Unionsrechts sind daher auch für die Unionsorgane verbindlich. Allerdings ist die konkrete Tragweite dieses Grundsatzes abhängig von der Auslegung und Anwendung der einzelnen Bestimmungen des EUV und des AEUV. Das gilt vor allem für die Frage des Verhältnisses der politischen Kompetenzen der Union zu den normativen Vorgaben für den Binnenmarkt. Anhaltspunkte für die Bewältigung dieses Spannungsverhältnisses ergeben sich aus den grundlegenden Zielbestimmungen des EU-Vertrags.
Anmerkungen
Dazu immer noch grundlegend Eucken Grundsätze der Wirtschaftspolitik (7. Aufl. 2004); siehe auch Hensel Grundformen der Wirtschaftsordnung. Marktwirtschaft – Zentralverwaltungswirtschaft (1972); Leipold/Pies Ordnungstheorie und Ordnungspolitik. Konzeptionen und Entwicklungsperspektiven (2000).
ABl. 2008 C 115/309.
Vgl. zum Folgenden Hatje Wirtschaftsverfassung, aaO 811 ff.
Siehe dazu Art. 81 AEUV, der nunmehr ausdrücklich die justizielle Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten in Zivilsachen mit grenzüberschreitenden Bezügen ins Auge fasst, soweit sie für das reibungslose Funktionieren des Binnenmarktes erforderlich sind. Vgl. im Übrigen Mansel, Anerkennung als Grundprinzip des Europäischen Rechtsraums, RabelsZ 70 (2006) 651.
Siehe dazu näher im Folgenden Rn. 99 ff., 117 ff.
Charta der Grundrechte der Europäischen Union vom 1.12.2000, ABl. 2000 Nr. C 346/1. Die Charta ist am 1.12.2007 durch die Präsidenten des Europäischen Parlaments, des Rates und der Kommission feierlich proklamiert worden.
Nowak Unternehmerische Freiheit und Wettbewerbsfreiheit, in: Heselhaus/Nowak, Handbuch der Europäischen Grundrechte (2006) § 31, 866.
EuGH Rs. C-26/62 (van Gend & Loos), Slg. 1963, 1, 24 ff.
EuGH Rs. C-13/61 (Bosch), Slg. 1962, 97, 111 ff.
Siehe zum Verfassungscharakter schon des EGV: EuGH Rs. C-284/83 (Parti écologiste „Les Verts“/EP), Slg. 1986, 1339, Rn. 23; EuGH Gutachten 1/91 (EWR I), Slg. 1991 I-6079, Rn. 21. Siehe zum Konzept der Wirtschaftsverfassung Hatje Wirtschaftsverfassung, aaO 803 ff.
EuGH Rs. C-6/64 (Costa/ENEL), Slg. 1964, 1251, 1270.
Insoweit grundlegend bereits das Urteil im Fall Costa/ENEL ebd.
Der Vorrang der gemeinschaftlichen Wettbewerbsregeln vor nationalem Recht steht seit dem Urteil im Fall Walt Wilhelm fest: EuGH Rs. C-14/68 (Wilhelm/Bundeskartellamt), Slg. 1969, 1, Rn. 7.
Vgl. Nowak (oben Fn. 7).
Vgl. OECD,