Europäisches Marktöffnungs- und Wettbewerbsrecht. Peter Behrens
§ 18: Wirtschaftsverfassung und Wirtschaftspolitik, 299; Müller-Graff Europäisches Wirtschaftsordnungsrecht: Das System, in: Ders. (Hrsg.) Europäisches Wirtschaftsordnungsrecht [Enzyklopädie Europarecht, Bd. 4] (2015) § 1, 51; Wollenschläger Die unternehmerische Freiheit (Art. 16 GRCh) als grundrechtlicher Pfeiler der EU-Wirtschaftsverfassung, EuZW 2015, 285.
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Ordnungspolitik ist der Teil der Wirtschaftspolitik, der sich auf die Gestaltung der institutionellen Rahmenbedingungen für das individuelle Handeln der am Binnenmarkt beteiligten Wirtschaftssubjekte bezieht. Diese Rahmenbedingungen sollen gewährleisten, dass aus den einzelwirtschaftlichen Handlungen ein gesamtwirtschaftlicher Prozess entsteht, der die wirtschaftlichen Ziele der Gesellschaft möglichst gut verwirklicht. Wirtschaftliches Handeln ist ohne solche Rahmenbedingungen, dh ohne eine Wirtschaftsordnung, nicht möglich.
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Wirtschaftliches Handeln besteht in der Herstellung, der Verteilung und dem Verbrauch von Gütern und Leistungen in einer Welt, in der die vorhandenen Ressourcen nicht ausreichen, um alle Bedürfnisse jederzeit vollständig zu befriedigen. Es herrscht maW Knappheit. Daher liegt der Grund für das Wirtschaften wesentlich darin, dass ständig Entscheidungen darüber getroffen werden müssen, welche Bedürfnisse in welchem Maße und in welcher Rangfolge durch entsprechende Güter oder Leistungen befriedigt werden sollen. Es geht also um die Zuordnung (Allokation) der knappen Ressourcen zu bestimmten Verwendungszwecken. Solche Allokationsentscheidungen werden auf der Grundlage von Plänen getroffen. Wirtschaften ist planvolles Verhalten, das auf der Einschätzung künftiger Entwicklungen beruht, deren Nutzen und Kosten gegeneinander abgewogen werden.
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Damit stellt sich die Frage nach der wirtschaftlichen Planungszuständigkeit. Ihre Beantwortung obliegt der Ordnungspolitik. Für die Gestaltung einer Wirtschaftsordnung gibt es im Prinzip zwei idealtypische Möglichkeiten: die wirtschaftliche Planungszuständigkeit kann entweder einer übergeordneten Planungsinstanz oder den einzelnen Wirtschaftssubjekten zugeordnet werden. Die Planung kann also entweder zentral oder dezentral organisiert sein. Daraus sind die beiden gegensätzlichen Ordnungsmodelle der Zentralverwaltungswirtschaft und der Verkehrswirtschaft abgeleitet worden.[1] Das erste Modell findet sich in der Realität dort, wo eine Regierung die Wirtschaftsplanung eines Landes in Händen hält; in diesem Fall werden die Austauschbeziehungen zwischen den Wirtschaftssubjekten mit den Mitteln des öffentlichen Rechts auf der Grundlage politischer Entscheidungen gesteuert, sie werden m.a.W. zentral verwaltet. Das zweite Modell findet sich dort, wo die Planungszuständigkeit den Wirtschaftssubjekten (Unternehmen und Verbrauchern) jeweils individuell zugewiesen ist; in diesem Fall werden die Austauschbeziehungen privatrechtlich geregelt und der wirtschaftliche Verkehr wird durch den Wettbewerb der Anbieter und Nachfrager auf Märkten gesteuert. Während im ersten Modell die Allokationsentscheidungen politischen Vorgaben folgen, orientieren sie sich im zweiten Modell an Marktpreisen. Die Frage nach der Wirtschaftsordnung ist also im Kern die Frage nach dem Verhältnis von Markt und Staat bzw. von Wettbewerb und Politik. Eine Beantwortung dieser Frage ist nun für eine Wirtschaftsgemeinschaft ebenso unausweichlich wie für eine nationale Volkswirtschaft. Auch im Hinblick auf die wirtschaftliche Integration bisher getrennter nationaler Volkswirtschaften muss das Verhältnis von zentraler und dezentraler wirtschaftlicher Planung, von Wettbewerb und Politik bzw. von Markt und Staat beantwortet werden.
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In diesem Sinne war schon der bisherigen EG ein ordnungspolitischer Ansatz notwendigerweise immanent, der insbesondere die Öffnung der nationalen Märkte, die Rolle des Wettbewerbs und die Grenzen der politischen Steuerung der Wirtschaft in der EG definierte. Die Errichtung eines Gemeinsamen Markts bzw. Binnenmarkts ist von Beginn an der Kernbestandteil der wirtschaftlichen Integration gewesen. Sie ist es auch nach der Einführung des Binnenmarktkonzepts und der Währungsunion durch den Vertrag von Maastricht geblieben. Damit hatte sich die EG am marktwirtschaftlichen Modell offener und durch Wettbewerb gesteuerter Märkte orientiert. Ihre Grundlage war von Beginn an die Gewährleistung der Freiheit des Waren- und des Dienstleistungsverkehrs, der Freizügigkeit der Arbeitnehmer und der selbstständig Gewerbetreibenden (Niederlassungsfreiheit), der Freiheit des Kapital- und des Zahlungsverkehrs sowie die Zuständigkeit der Gemeinschaft für die Wettbewerbspolitik und die Rechtsangleichung. Dieses ordnungspolitische Konzept ist auch nach dem Vertrag von Lissabon im Rahmen der EU erhalten geblieben. Art. 3 Abs. 3 S. 1 EUV hat die Errichtung eines Binnenmarkts als ein Ziel der Union ausdrücklich bestätigt; und im Protokoll Nr. 27 über den Binnenmarkt und den Wettbewerb,[2] das gem. Art. 51 EUV Vertragsbestandteil ist, haben die Vertragsparteien festgestellt, dass zum Binnenmarkt „ein System gehört, das den Wettbewerb vor Verfälschungen schützt“. Demgemäß verpflichtet Art. 119 AEUV die Union und ihre Mitgliedstaaten folgerichtig nach wie vor zu einer Wirtschaftspolitik, die sich am Binnenmarkt und dem „Grundsatz einer offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb“ orientiert.
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Für marktförmige Austauschprozesse auf der Grundlage der dezentralen wirtschaftlichen Planung der einzelnen Wirtschaftssubjekte sind die privatrechtlichen Institutionen des Eigentums und des Vertrags konstitutiv.[3] Sie haben ihre Grundlage in den nationalen Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten. Dies bedeutet, dass die wirtschaftlichen Handlungsmöglichkeiten der Privatrechtssubjekte im Binnenmarkt zunächst einmal durch die mitgliedstaatlichen Privatrechtsordnungen definiert werden. Um über die mitgliedstaatlichen Grenzen hinweg wirken zu können, bedürfen sie der gegenseitigen Anerkennung durch die einzelstaatlichen Rechtsordnungen. Dafür sorgen im Grundsatz die Bestimmungen des Internationalen Privatrechts: Wer in einem Mitgliedstaat rechtsfähig ist, dh Träger von Rechten und Pflichten sein und insbesondere Verträge schließen kann, der ist es grundsätzlich auch in den anderen Mitgliedstaaten; das in einem Mitgliedstaat begründete Eigentum wird auch in den anderen Mitgliedstaaten anerkannt; und ein Vertrag, der nach dem Recht eines Mitgliedstaats abgeschlossen worden ist, ist auch in den anderen Mitgliedstaaten verbindlich und durchsetzbar. Die Handlungsmöglichkeiten der Wirtschaftssubjekte sind also unionsweit privatrechtlich gesichert.[4] Sie sind im Übrigen auch durch die unionsrechtlichen Normen geschützt, die der Öffnung der nationalen Märkte und dem Schutz des Wettbewerbs im Binnenmarkt dienen.[5] Sie genießen darüber hinaus auch Grundrechtsschutz, und zwar nach Maßgabe nicht nur der mitgliedstaatlichen Verfassungen, sondern auch der in der Grundrechtecharta der EU[6] kodifizierten Grundrechte (Art. 15–17 GRCh), auf die Art. 6 Abs. 1 EUV ausdrücklich verweist.[7]
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Allerdings können die privatrechtlichen Handlungsmöglichkeiten durch politisch motivierte Restriktionen der Mitgliedstaaten beschränkt sein. Solche Beschränkungen ergeben sich insbesondere aus dem Außenwirtschaftsrecht, das die grenzüberschreitenden privatrechtlichen Handlungsmöglichkeiten der Privatrechtssubjekte begrenzt. Beschränkungen des grenzüberschreitenden wirtschaftlichen Austauschs können sich aber auch aus beliebigen anderen Regelungen ergeben, mit denen die Mitgliedstaaten bestimmte politische Ziele gegenüber den Privatrechtssubjekten durchsetzen wollen. Die ordnungspolitische Entscheidung des EU-Vertrags zugunsten der wirtschaftlichen Integration durch Errichtung eines Binnenmarkts beinhaltet notwendigerweise, dass der politischen Steuerung des grenzüberschreitenden Wirtschaftsaustauschs durch die Mitgliedstaaten Grenzen gesetzt sein müssen. Die konkrete Ausformung dieser Grenzen ist eine Frage der Auslegung der für den Binnenmarkt konstitutiven Normen des AEUV.
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Von grundlegender Bedeutung ist in diesem Zusammenhang der Grundsatz der unmittelbaren Anwendbarkeit des Unionsrechts, den der EuGH erstmals in seiner Leitentscheidung Van Gend & Loos[8] aufgestellt und damals aus dem Ziel der Errichtung eines Gemeinsamen Markts [jetzt: eines Binnenmarkts] abgeleitet hat. Der Grundsatz besagt, dass die für den Binnenmarkt konstitutiven Normen des AEUV unmittelbare Wirkung im innerstaatlichen Recht der Mitgliedstaaten