Europäisches Marktöffnungs- und Wettbewerbsrecht. Peter Behrens
Eben diese ökonomische Funktion erfüllt das Rechtsinstitut des Eigentums: Der Eigentümer ist berechtigt, alle anderen von der Nutzung der ihm gehörenden Gegenstände auszuschließen; und deshalb kann er die Nutzung durch andere davon abhängig machen, dass sie ihm eine Gegenleistung zahlen. Der rechtlichen Absicherung solcher Transaktionen, durch welche die Nutzungs- bzw. Eigentumsrechte an bestimmten Gegenständen gegen Entgelt übertragen werden, dient das Vertragsrecht. Eigentum und Vertrag sind somit die grundlegenden institutionellen Voraussetzungen für eine effiziente Verteilung (Allokation) der begrenzt vorhandenen Mittel auf die unterschiedlichen Verwendungsmöglichkeiten. Sie sind zugleich die institutionellen Voraussetzungen dafür, dass die Menschen selbst darüber bestimmen können, welche Mittel der Bedürfnisbefriedigung sie für welche Zwecke zu welchem Preis erwerben wollen. Hieraus folgt, dass die Förderung des „Wohlergehens“ der in der Union zusammengeschlossenen Völker im Sinne der Zielbestimmung des Art. 3 Abs. 1 EUV einen institutionellen Rahmen voraussetzt, innerhalb dessen die in der Union lebenden Einzelnen ihr jeweiliges individuelles bzw. kollektives Wohlergehen nach ihren eigenen Vorstellungen fördern können. Dem tragen die folgenden Zielebenen ausdrücklich Rechnung.
2. Wirtschaftspolitische Zwischenziele
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Zur Förderung des „Wohlergehens“ der Völker im Sinne der Förderung der ökonomischen Effizienz im Rahmen der Verwirklichung des Binnenmarkts formuliert Art. 3 Abs. 3 UAbs. I S. 2 EUV eine Reihe wirtschaftspolitischer Zwischenziele, auf deren Realisierung die Union hinwirken soll. Sie umfassen zunächst einmal
– | eine nachhaltige Entwicklung des Wirtschaftslebens, |
– | ein ausgewogenes Wirtschaftswachstum, |
– | Preisstabilität, |
– | Vollbeschäftigung. |
Damit nimmt Art. 3 Abs. 3 UAbs. I S. 2 EUV das traditionell so genannte magische Viereck der Wirtschaftspolitik[5] in Bezug, das ein stetiges Wachstum (dh Ausweitung des Wirtschaftspotentials bei Stabilität der Entwicklung), die Preisstabilität (dh Geldwertstabilität), einen hohen Beschäftigungsgrad und – so wäre hinzuzufügen – das außenwirtschaftliche Gleichgewicht (zwischen Einfuhren und Ausfuhren) umfasst.[6] Das Wachstumsziel wird noch unterstützt durch die in Art. 3 Abs. 1 UAbs. I S. 3 EUV vorgesehene Förderung des wissenschaftlichen und technischen Fortschritts.
Art. 3 Abs. 3 UAbs. I S. 2 EUV bindet die Verwirklichung dieser wirtschaftspolitischen Ziele allerdings an die gleichzeitige Gewährleistung
– | sozialen Fortschritts sowie |
– | eines hohen Maßes an Umweltschutz und Verbesserung der Umweltqualität. |
Damit wird ausdrücklich anerkannt, dass die wirtschaftliche Integration weder die Verwirklichung sozialer Ziele (wie sie in Art. 3 Abs. 3 UAbs. II EUV weiter konkretisiert werden) noch die natürlichen Lebensgrundlagen der Menschen gefährden soll. Die dafür erforderlichen Maßnahmen ergreift die Union aber nur nach Maßgabe der Bestimmungen des AEUV zur Sozial- und Umweltpolitik (vgl. Art. 3 Abs. 6 EUV). Das gilt entsprechend auch für die Förderung des wirtschaftlichen, sozialen und territorialen Zusammenhalts und der Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten gem. Art. 3 Abs. 3 UAbs. III EUV.
3. Institutionelle Unterziele
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Als institutionelle Unterziele nennt der EUV die Errichtung eines Binnenmarkts (Art. 3 Abs. 3 UAbs. I S. 1 EUV) sowie einer Wirtschafts- und Währungsunion (Art. 3 Abs. 4 EUV) und er bezieht sich insgesamt ausdrücklich auf das Konzept einer „in hohem Maße wettbewerbsfähigen sozialen Marktwirtschaft“ (Art. 3 Abs. 3 UAbs. I S. 2 EUV). Die entsprechende Zielbestimmung in Art. 2 des ehemaligen EG-Vertrags hatte „die Errichtung des Gemeinsamen Markts und einer Wirtschafts- und Währungsunion“ ausdrücklich noch als Instrumente betrachtet, „durch“ die sowohl die wirtschaftspolitischen Zwischenziele als auch das übergeordnete allgemeine Ziel der „Hebung der Lebenshaltung und der Lebensqualität“ erreicht werden sollten. Eine ähnlich klare funktionelle Ziel-Mittel-Hierarchie ist zwar dem Wortlaut des Art. 3 EUV nicht zu entnehmen. Es könnte vielmehr den Eindruck einer diffusen Gleichrangigkeit aller in dieser Bestimmung erwähnten Ziele entstehen. Das würde aber der unterschiedlichen Eigenart dieser Ziele widersprechen. Die einzelnen Zielbestimmungen bewegen sich nämlich zum einen – wie gezeigt – auf drei unterschiedlichen Abstraktionsebenen. Zum anderen stehen diese drei Ebenen nach wie vor in einer funktionellen Ziel-Mittel-Relation zueinander. So muss die „Errichtung eines Binnenmarkts“ (einschließlich des Systems unverfälschten Wettbewerbs) zwar als institutionelles Unterziel, aber zugleich als Mittel für die Gewährleistung der wirtschaftspolitischen Zwischenziele angesehen werden und diese wiederum als Mittel zur Förderung der Gesamtzielsetzung der Europäischen Integration, insbesondere des „Wohlergehens“ der Völker.[7] An der funktionellen Logik der Zielbestimmungen hat sich daher gegenüber dem EGV im EUV nicht grundlegend etwas geändert.
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Somit ist festzuhalten, dass der EUV das marktwirtschaftliche Ordnungsmodell – ergänzt durch eine soziale und ökologische Komponente nach Maßgabe des AEUV – in den Dienst der Unionsziele stellt. Der EUV geht ebenso wie früher der EGV davon aus, dass dieses Ordnungsmodell am besten geeignet ist, die Vertragsziele zu verwirklichen, insbesondere das „Wohlergehen“ der Völker zu gewährleisten. Die Wirtschaftsverfassung der Union besteht daher im Kern nach wie vor aus dem Binnenmarkt (Art. 3 Abs. 3 UAbs. I S. 1 EUV) sowie einem „System, das den Wettbewerb vor Verfälschungen schützt“ (Art. 51 EUV iVm dem Protokoll Nr. 27 über den Binnenmarkt und den Wettbewerb[8]).[9] Dies kommt auch in dem „Grundsatz einer offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb“ zum Ausdruck, der als Leitprinzip für die Wirtschaftsunion in Art. 119 AEUV kodifiziert ist. Dieser Grundsatz bindet die Union nicht nur hinsichtlich der Koordinierung der mitgliedstaatlichen Wirtschaftspolitiken nach Maßgabe der Art. 120–126 AEUV, sondern auch hinsichtlich ihrer eigenen wirtschaftspolitischen Aktivitäten. Auch das hohe Maß an (internationaler) Wettbewerbsfähigkeit, das der EUV mit dem Konzept der „sozialen Marktwirtschaft“ verbindet (Art. 3 Abs. 3 UAbs. I S. 2 EUV) kann nur erreicht werden, wenn sie sich intern an diesem Grundsatz orientiert. Das hat weit reichende Implikationen für die gesamte Vertragsauslegung.
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Für die Förderung des „Wohlergehens“ der Völker als oberster wirtschaftlicher Zielsetzung der Union bedeutet dies, dass die Union die Ressourcenallokation grundsätzlich nicht von sich aus politisch gestaltet, sondern dass sie ihren Bürgern ein marktförmiges Entscheidungsverfahren zur Verfügung stellt, welches ihnen erlaubt, im Rahmen ihrer Möglichkeiten selbst über ihre Lebenshaltung zu entscheiden. Die Menschen sollen durch die Errichtung eines Binnenmarkts quantitativ und qualitativ bessere Möglichkeiten erhalten, ihre jeweils individuellen Bedürfnisse durch entsprechende Markttransaktionen zu befriedigen. Dabei versteht Art. 3 Abs. 1 EUV den Begriff des „Wohlergehens“ offensichtlich keineswegs im rein materiellen Sinne. Auch immaterielle Werte gehören dazu. Aber auch die Befriedigung immaterieller Bedürfnisse setzt häufig die Verfügung über bestimmte materielle Mittel voraus, die über marktförmige Transaktionen erworben werden müssen. Die Verknüpfung der Förderung des „Wohlergehens“ mit dem Konzept des Binnenmarkts in Art. 3 EUV zielt also insgesamt auf Effizienz im Rahmen einer Ordnung, die auf individuellen Marktfreiheiten beruht. Die Kompetenznormen der Art. 2–6 AEUV konkretisieren die