Europäisches Marktöffnungs- und Wettbewerbsrecht. Peter Behrens
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Für die Förderung der wirtschaftspolitischen Ziele fasst Art. 3 Abs. 4 EUV die Vergemeinschaftung der Wirtschafts- und Währungspolitik ins Auge. Art. 119 AEUV konkretisiert, was darunter zu verstehen ist. Die Währungsunion dient der Einführung einer einheitlichen Geldverfassung auf der Grundlage der Zentralisierung der Geld- und Wechselkurspolitik, die ihrerseits vorrangig an das Ziel der Preisstabilität gebunden ist. Die Preisstabilität (genauer: Preisniveaustabilität) ist eine elementare Voraussetzung für die Funktionsfähigkeit des Preismechanismus und damit des Marktes. Sie sichert die wirtschaftliche Planbarkeit für die Marktteilnehmer, deren Entscheidungen stets auf Prognosen hinsichtlich künftiger Entwicklungen und auf einer Abwägung der in Geld ausgedrückten Nutzen und Kosten bestimmter Handlungsmöglichkeiten beruhen. Die Konformität der zentralisierten Geld- und Wechselkurspolitik mit den Erfordernissen der Marktintegration wird darüber hinaus ausdrücklich dadurch gesichert, dass Art. 119 Abs. 2 AEUV rechtsverbindlich die Beachtung des Grundsatzes einer offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb verlangt.
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Die in Art. 3 Abs. 4 EUV ins Auge gefasste Wirtschaftsunion würde zwar eine Zentralisierung derjenigen wirtschaftspolitischen Kompetenzen voraussetzen, die auf die Verwirklichung der Wachstums-, Stabilitäts- und Beschäftigungsziele ausgerichtet sind. Aber dazu ist es bislang nicht gekommen. Art. 119 Abs. 1 AEUV beschränkt sich auf die Koordinierung der Wirtschaftspolitik der Mitgliedstaaten und die Festlegung gemeinsamer Ziele. Im Übrigen bindet Art. 119 Abs. 1 AEUV auch die wirtschaftspolitischen Aktivitäten der Union und der Mitgliedstaaten an den Grundsatz einer offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb, dh an die Erfordernisse des Binnenmarkts und des Systems unverfälschten Wettbewerbs. Wachstum und Beschäftigung werden somit grundsätzlich als Folgen der Marktintegration und nicht einer wirtschaftspolitischen Steuerung betrachtet, mit der die Marktergebnisse korrigiert werden. Und das Stabilitätsziel beschränkt die Wirtschaftspolitik auf Maßnahmen, die nicht unmittelbar in die Marktprozesse eingreifen. Dies gilt allerdings unter dem Vorbehalt bestimmter Formen des Marktversagens, das staatliche Korrekturen rechtfertigen kann (siehe dazu im Einzelnen unten Rn. 54 ff.).
Anmerkungen
Siehe etwa EuGH Rs. C-6/90 und C 9/90 (Francovich und Bonifaci), Slg. 1991 I-5357, Rn. 33 f.; EuGH Rs. C-46/93 und C-48/93 (Brasserie du Pêcheur und Factortame), Slg. 1996 I-1029, Rn. 20 ff.; Streinz Der „effet utile“ in der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, in: FS Everling (1995) Bd. II, 1491.
Vgl. etwa EuGH Rs. C-24/62 (Deutschland/Kommission), Slg. 1963, 131, 153 f.; EuGH Rs. C-85/76 (Hoffmann-La Roche), Slg. 1979, 461, Rn. 125; EuGH Rs. C-53/81 (Levin), Slg. 1982, 1050, Rn. 15.
Siehe dazu das Protokoll Nr. 27 über den Binnenmarkt und den Wettbewerb (ABl. 2008 C 115/309), das gem. Art. 51 EUV Bestandteil des EUV ist.
Entgegen einer weit verbreiteten Überzeugung gilt: „There is no free lunch“.
Vgl. zur Skepsis gegenüber zu einer am magischen Viereck orientierten staatlichen „Globalsteuerung“ weiter unten Rn. 36 ff.
Man spricht von einem „magischen“ Viereck, weil es in der wirtschaftspolitischen Praxis häufig schwierig erscheint, alle Ziele gleichzeitig zu verfolgen.
Auch der EuGH hat des Öfteren darauf hingewiesen, dass der Binnenmarkt und das Wettbewerbssystem nicht Selbstzweck, sondern Mittel zum Zweck der Erreichung der übergeordneten Integrationsziele sind: siehe etwa EuGH Gutachten 1/91 (EWR I), Slg. 1991 I-6079, Rn. 50.
ABl. 2008 C 115/309.
Ebenso beispielsweise Hatje Das Binnenmarktziel in der europäischen Verfassung – zur Einführung, in: Ders./Terhechte (Hrsg.) Das Binnenmarktziel in der europäischen Verfassung, EuR 2004, Beiheft 3, 7; Calliess/Ruffert Verfassung der Europäischen Union – Kommentar der Grundlagenbestimmungen (2006), Art. I-3, Rn. 22 ff.
1. Teil Grundlagen › 1. Kapitel Der Binnenmarkt als Systementscheidung › § 4 Errichtung des Binnenmarkts
§ 4 Errichtung des Binnenmarkts
Literatur:
Grabitz Über die Verfassung des Binnenmarktes, in: FS Steindorff (1990) 1229; Schubert Der Gemeinsame Markt als Rechtsbegriff – Die allgemeine Wirtschaftsfreiheit des EG-Vertrages (1999); Hatje/Terhechte (Hrsg.) Das Binnenmarktziel in der europäischen Verfassung, EuR 2004, Beiheft 3; Nowak Das Verhältnis des Wettbewerbsrechts und der Grundfreiheiten im Binnenmarkt, in: Hatje/Terhechte (Hrsg.) aaO 77; Nowak Binnenmarktziel und Wirtschaftsverfassung der Europäischen Union vor und nach dem Reformvertrag von Lissabon, in: Schwarze/Hatje (Hrsg.) Der Reformvertrag von Lissabon, EuR 2009, Beiheft 1, 129; Mestmäcker/Schweitzer Europäisches Wettbewerbsrecht (3. Aufl. 2014) § 2: Grundfreiheiten und Wettbewerb im Binnenmarkt, 30 ff.; Epiney Gemeinwohlinteressen und Grundfreiheiten: Zum Gestaltungsspielraum der Mitgliedstaaten bei der Rechtfertigung des Eingriffs in Grundfreiheiten, in: FS Müller-Graff (2015) 467.
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Die Tätigkeiten der Union, die sich auf die Errichtung eines Binnenmarkts als Instrument zur Verwirklichung der in Art. 3 EUV definierten Ziele beziehen, werden im AEUV konkretisiert. Für diese Tätigkeiten ist teils ausschließlich die Union zuständig (Art. 3 AEUV); teils handelt es sich um Zuständigkeiten, welche die Union mit den Mitgliedstaaten teilt (Art. 4 AEUV). Im Falle einer ausschließlichen Kompetenz kann nur die Union gesetzgeberisch handeln und verbindliche Rechtsakte erlassen; die Mitgliedstaaten können insoweit allenfalls von der Union ermächtigt werden; im Übrigen führen sie die Rechtsakte der Union durch (Art. 2 Abs. 1 AEUV). Im Falle einer geteilten Zuständigkeit können sowohl die Union als auch die Mitgliedstaaten gesetzgeberisch handeln und verbindliche Rechtsakte erlassen; die Mitgliedstaaten können allerdings ihre Zuständigkeit nur insoweit wahrnehmen wie die Union ihre Zuständigkeit nicht ausgeübt hat (Art. 2 Abs. 2 AEUV).
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Der Begriff „Binnenmarkt“ ist zunächst in der Rechtsprechung des EuGH als Konkretisierung des Begriffs „Gemeinsamer Markt“ entwickelt worden. In der Rechtssache Gaston Schul hat der Gerichtshof folgendes ausgeführt:[1]
„Der Begriff Gemeinsamer Markt . . . stellt ab auf die Beseitigung aller Hemmnisse