Europäisches Marktöffnungs- und Wettbewerbsrecht. Peter Behrens
ausgehen, der Kompensation von Marktversagen dient. Die rein unterstützende Funktion der entsprechenden Gemeinschaftspolitiken wird für die Gesundheitspolitik noch dadurch betont, dass insoweit Maßnahmen zur Harmonisierung der mitgliedstaatlichen Rechts- und Verwaltungsvorschriften ausgeschlossen sind (Art. 168 Abs. 5 AEUV).
3. Fazit
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Als Fazit bleibt festzuhalten, dass die Union nach dem Text des AEUV auch bei der Ausübung ihrer Kompetenzen zur Steuerung der Wirtschaft im Interesse spezifischer wirtschaftlicher oder außerwirtschaftlicher Zielsetzungen weitestgehend an die Wahrung des Grundsatzes offener und wettbewerbsorientierter Märkte gebunden ist. So enthalten zahlreiche Normierungen von Unionskompetenzen – wie gezeigt – ausdrückliche Vorbehalte zugunsten der Funktionsfähigkeit des Binnenmarkts und des Systems unverfälschten Wettbewerbs. Dies gilt sowohl für die speziellen Normen zur Definition der diversen Unionspolitiken, als auch für die allgemeine Rechtsangleichungszuständigkeit der Union (Art. 114 AEUV). Die Union ist grundsätzlich nicht befugt, ihre Kompetenzen zur Errichtung neuer Marktzutrittsschranken oder zur Ausschaltung des Wettbewerbs zu nutzen.
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Allerdings lassen die angesprochenen Regelungen das tatsächliche Konfliktpotential der einzelnen Unionspolitiken im Verhältnis zur Binnenmarkt- und Wettbewerbspolitik nicht erkennen. Eine genauere Betrachtung der wirtschaftlichen Freiheiten und der Wettbewerbsregeln zeigt, dass im Kontext einzelner Normen Abwägungen zwischen den Zielen der Marktöffnung und des unverfälschten Wettbewerbs einerseits und den übrigen politischen Zielsetzungen der Union erforderlich sind.[47] Das gilt insbesondere im Hinblick auf die Querschnittsklauseln zugunsten des Umwelt- und Verbraucherschutzes (Art. 11 und 12 AEUV). Es geht darum, dass die Union bei der Wahrnehmung ihrer politischen Kompetenzen ihr regulatorisches Ermessen so ausübt, dass ihre Maßnahmen sich im Einklang mit der ordnungspolitischen Grundentscheidung der Verträge – dh insbesondere mit der in den Normen des AEUV zum Ausdruck gebrachten Wirtschaftsverfassung – befinden. Es besteht ein Regel-Ausnahme Verhältnis zwischen dieser Grundentscheidung und einzelnen Eingriffen im Rahmen der speziellen Unionspolitiken. Das legt eine Beschränkung regulatorischer Maßnahmen auf die Kompensation von Marktversagen nahe. Es geht also insgesamt um die Optimierung der Kombination von Wettbewerb und Regulierung.
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Es handelt sich aber bei der Frage nach der Kompatibilität regulatorischer Maßnahmen der Union mit ihrer Wirtschaftsverfassung nicht allein um eine Frage der politischen Opportunität, sondern um eine im Prinzip justiziable Rechtsfrage, für deren Lösung der EuGH in seiner Rechtsprechung insbesondere das Verhältnismäßigkeitsprinzip entwickelt hat. Unionspolitische Maßnahmen sollen und dürfen also den Grundsatz offener Märkte mit freiem Wettbewerb im Interesse der Funktionsfähigkeit des Binnenmarkts nicht mehr als unbedingt nötig beeinträchtigen. Anderenfalls wird das Ziel, nämlich die Förderung des „Wohlergehens“ der Völker der Union, dh die Verbesserung des Lebensstandards der Menschen, die sich die Union vom Binnenmarkt und vom System unverfälschten Wettbewerbs verspricht, verfehlt.
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Dieses Postulat gilt insbesondere dort, wo im Rahmen des Binnenmarktrechts und des Systems unverfälschten Wettbewerbs selbst Relativierungen der ordnungspolitischen Grundentscheidung zugunsten anderer unionsrechtlich akzeptierter Ziele ausdrücklich angelegt sind. Gemeint sind hier die vom AEUV vorgesehenen und vom EuGH weiter entwickelten Rechtfertigungsgründe für Beschränkungen des zwischenstaatlichen Handels sowie diejenigen Bestimmungen des Wettbewerbsrechts, die geeignet sein können, das Verbot von Wettbewerbsbeschränkungen zugunsten anderer Ziele einzuschränken. So finden im Rahmen des Binnenmarktrechts schon nach dem Wortlaut des Vertrages (vgl. etwa Art. 36 AEUV), aber insbesondere auch nach der Rechtsprechung des EuGH[48] zwingende Allgemeinwohlinteressen der Mitgliedstaaten als Begrenzungen der wirtschaftlichen Verkehrsfreiheiten Berücksichtigung, die zugleich die Grundlage für etwaige Rechtsangleichungsmaßnahmen der EU gem. Art. 114 ff. AEUV und damit für die Wahrnehmung regulatorischer Kompetenzen zum Schutz außerwirtschaftlicher Ziele darstellen (siehe hierzu bereits oben Rn. 61 sowie hinsichtlich der Einzelheiten weiter unten Rn. 175 ff.). Auch im Rahmen der Wettbewerbsregeln sind – wenn auch mit unterschiedlicher Akzentuierung im Kartell-, Fusionskontroll-, Beihilfen- und Vergaberecht – außerwettbewerbliche Ziele zu berücksichtigen, soweit die jeweiligen Tatbestandsmerkmale dies nach ihrem Wortlaut bzw. nach der Auslegung durch den EuGH erlauben. Die Grenzen dafür sind bei den Verboten wettbewerbsbeschränkender Verhaltensweisen besonders eng gezogen (vgl. insoweit die Voraussetzungen für einer Freistellung vom Kartellverbot gem. Art. 101 Abs. 3 AEUV). Dagegen wird der Wettbewerbsschutz gem. Art. 106 Abs. 2 AEUV im Hinblick auf „Dienste von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse“ erheblich zurückgenommen, während im Rahmen der Beihilfenkontrolle die Förderung zahlreicher außerwettbewerblicher Politikziele gem. Art. 107 Abs. 2 und 3 AEUV ausdrücklich legalisiert ist (siehe zu den Einzelheiten die jeweils einschlägigen Erörterungen in Teil 3).
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Im institutionellen Gefüge der Union ist vor allem die Kommission – unter der rechtlichen Aufsicht der europäischen Gerichte – zuständig für die Sicherung der Kompatibilität ihrer regulatorischen Maßnahmen bzw. ihrer Rechtsanwendungsentscheidungen mit dem Grundsatz offener Märkte und freien Wettbewerbs. Sie ist das wesentliche Initiativorgan für die unionsrechtliche Regulierung und im Bereich des Wettbewerbsrechts zugleich das zentrale Rechtsanwendungsorgan. Die Mitglieder der Kommission, die als Kollektivorgan entscheidet, repräsentieren entsprechend ihren jeweiligen Ressorts die widerstreitenden Politiken der Union. Das Verhältnis der verschiedenen Unionspolitiken zur Binnenmarkt- und Wettbewerbspolitik muss daher ohnehin im Rahmen der Kommission ausbalanciert werden. Es ist in diesem Zusammenhang von eminenter Bedeutung, dass die Generaldirektion Wettbewerb der Kommission inzwischen Richtlinien für die Bewertung der Auswirkung von regulatorischen Maßnahmen der Gemeinschaft auf den Wettbewerb im Binnenmarkt (Guide to Competition Screening) veröffentlicht hat.[49] Darin bringt die Kommission selbst ihre Überzeugung zum Ausdruck, dass alle regulatorischen Maßnahmen der Union einem „Wettbewerbstest“ unterworfen werden sollten, in dessen Rahmen jeweils im Einzelfall zu erwägen ist, welche Beschränkungen eine Maßnahme für den Wettbewerb mit sich bringt und ob nicht weniger beschränkende bzw. marktkonforme Alternativen zur Verfolgung einer bestimmten Unionspolitik zu Verfügung stehen.[50] Auch im Hinblick auf die mitgliedstaatliche Regulierung sollte die Kommission entsprechende „Wettbewerbstests“ durchführen. Erste Schritte in diese Richtung sind bereits zu erkennen.[51]
III. Außenwirtschaftspolitik
Literatur:
Grabitz/v. Bogdandy/Nettesheim (Hrsg.) Europäisches Außenwirtschaftsrecht (1994); Kadelbach Die Außenbeziehungen der Europäischen Union (2006); Herrmann/Krenzler/Streinz (Hrsg.) Die Außenwirtschaftspolitik der Europäischen Union nach dem Verfassungsvertrag (2006); Metz Die Außenbeziehungen der Europäischen Union nach dem Vertrag über eine Verfassung für Europa (2007); Herrmann/Michl Grundzüge des europäischen Außenwirtschaftsrechts, ZEuS 2008, 81; Tietje Die Außenwirtschaftsverfassung der EU nach dem Vertrag von Lissabon (2009); Bungenberg Außenbeziehungen und Außenhandelspolitik, in: Schwarze/Hatje, Reformvertrag von Lissabon, EuR 2009, Beiheft 1, 195; Bungenberg/Herrmann (Hrsg.) Die gemeinsame Handelspolitik der Europäischen Union nach Lissabon, 2011; Müller-Ibold Die gemeinsame Handelspolitik nach Lissabon. Sekundärrechtsabhängigkeit der gemeinsamen Handelspolitik, in: Bungenberg/Herrmann (Hrs.) Die gemeinsame Handelspolitik der Europäischen