Jugendgerichtsgesetz. Herbert Diemer
112). In Verfahren vor den für allgemeine Strafsachen zuständigen Gerichten sind die Entscheidungen, die nach einer Aussetzung einer Jugendstrafe zur Bewährung erforderlich werden (§§ 22–26), dem Jugendrichter zu übertragen, in dessen Bezirk sich der Jugendliche/Heranwachsende aufhält (§§ 104 Abs. 5 S. 1, 112 S. 1).
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Der Anteil der zur Bewährung ausgesetzten Jugendstrafen bis zu einem Jahr lag 1960 bei 55 %, 1970 bei 73 %, 1980 bei 79,6 %, 1990 bei 79,0 %, 2000 bei 78,5 %, 2012 bei 80,8%und hat sich seitdem in dieser Größenordnung eingependelt (2017 = 84,8 % bei 6 Monaten, 81,6 % bei 6-9 Monaten und 75,2 % bei 9-12 Monaten). Der Anstieg der nach § 21 Abs. 2 ausgesetzten Jugendstrafe erfolgte von 18,7 % = 1975 über 42,7 % = 1985 auf 60,0 % = 1995 und liegt, nach einem Rückgang auf 55,5 % = 2005 bei nun 59,9 % = 2012. Nach der Reform des § 21 Abs. 2 durch das 1. JGGÄndG 1990 schwankt die Aussetzungsquote um 60 %, dies ist vergleichbar mit der Entwicklung zu § 21 Abs. 1.
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Jugendstrafe und Strafaussetzung zur Bewährung 2012 und 2017 siehe § 18 RN 3. Von allen Jugendstrafen sind 2010 =63,0 % und 2015 = 60,5%, von allen aussetzungsfähigen Jugendstrafen 2010=72,7% und 2015=70,8% zur Bewährung ausgesetzt worden.
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Die große praktische Bedeutung mit konstant hohen Aussetzungsquoten wirft die Frage auf, ob nicht schon die Zahl der verhängten Jugendstrafen deutlich reduziert werden müsste, so dass sich die Folgefrage nach der Strafaussetzung gar nicht mehr stellt (Eisenberg § 21 Rn. 9a). Die Reform in Richtung auf ambulante Sanktionen sollte weitgehend auf den Druck der Widerrufsmöglichkeit und damit einer zu vollstreckenden Jugendstrafe verzichten können zu Gunsten echter ambulanter Alternativen. Auf der anderen Seite ist zu fragen, ob die Obergrenze von zwei Jahren in § 21 Abs. 2 beizubehalten ist oder nach österreichischem Vorbild einer bedingten oder teilbedingten Strafnachsicht alle Strafen aussetzungsfähig sein sollten (so die Vorschläge auf dem Göttinger Jugendgerichtstag 1989, in: DVJJ (Hrsg.), 1990, S. 607 und 793). Andererseits wird aber befürchtet, dass bei einer generellen Aussetzungsfähigkeit der Trend zu zunehmend längeren Jugendstrafen anhalten dürfte (Dünkel 1990, S. 462). Dieses Problem lässt sich nicht isoliert, sondern nur im Zusammenhang mit einer Gesamtreform des jugendstrafrechtlichen Sanktionensystems z.B. durch drastische Absenkung der Höchststrafen regeln. Die Bundesregierung sieht dafür aber keinen Anlass und verweist auf die fehlende Akzeptanz in der Bevölkerung und die regelmäßig negative Prognose bei der entsprechenden Tätergruppe (BT-Drucks. 16/13142 v. 26.9.2009).
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Der Standort der Strafaussetzung zur Bewährung innerhalb der jugendstrafrechtlichen Sanktionen ist umstritten. Während Eisenberg § 21 Rn. 4, Schaffstein/Beulke/Swoboda Rn. 492, und Streng Rn. 465 (Modifikation der Vollstreckung) der Strafaussetzung keinen selbstständigen Charakter zuerkennen und sich gegen eine „Aussetzungsstrafe“ im Gegensatz zu einer „Vollstreckungsstrafe“ wenden, betont vor allem Ostendorf Grdl. z. §§ 21–26a Rn. 3 die Abweichungen in Zielsetzung und praktischer Bedeutung, so dass die Strafaussetzung als eigenständige Sanktion i.S. einer „Bewährung in Freiheit“ zu verstehen ist. Praktische Konsequenzen in dieser Streitfrage sehen Schaffstein/Beulke/Swoboda Rn. 495 hinsichtlich des Verschlechterungsverbots im Rechtsmittelverfahren (keine Umwandlung einer Jugendstrafe ohne Bewährung in eine höhere mit Bewährung und umgekehrt). Bei Anwendung der §§ 331, 358 Abs. 2 StPO kommt man jedoch auch zu diesen Ergebnissen, wenn man in der Strafaussetzung zur Bewährung eine selbstständige Rechtsfolge sieht. Für die kriminologische Sanktionsforschung handelt es sich um eine eigenständige Sanktion, hinsichtlich der kriminalpolitischen Orientierung mit der im 1. JGGÄndG 1990 ansatzweise verwirklichten Abkehr von den stationären Rechtsfolgen ebenfalls. Aus der JGG-Reform ergibt sich die dogmatische Folgerung, die Strafaussetzung zur Bewährung als eigenständige jugendstrafrechtliche Sanktion anzuerkennen.
II. Strafaussetzung bei Jugendstrafe von nicht mehr als einem Jahr
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Bei einer günstigen Prognose ist die Strafaussetzung zwingend vorgeschrieben. Einschränkungen aus generalpräventiven Gesichtspunkten wie im allgemeinen Strafrecht durch § 56 Abs. 3 StGB (Verteidigung der Rechtsordnung) gibt es im Jugendstrafrecht nicht.
1. Zeitliche Grenze
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Maßgebend ist die Dauer der erkannten Strafe von nicht mehr als einem Jahr. Die Anrechnung von Untersuchungshaft (§ 52a) oder einer anderen Freiheitsentziehung (§ 31 Abs. 2) schließt gem. § 21 Abs. 3 S. 2 die Strafaussetzung nicht aus. Wenn jedoch die Strafe im Zeitpunkt des Urteils durch Anrechnung der erlittenen Untersuchungshaft voll verbüßt ist, bleibt kein Raum mehr für die Aussetzung der Vollstreckung der Strafe zur Bewährung (BGHR JGG § 21 verbüßte Strafe 1; BGHSt 31, 25; BGH NJW 1961, 1220). Trotz günstigerer registerrechtlicher Regelungen (§ 32 Abs. 2 Nr. 3 BZRG) kann sich die Strafaussetzung bei der Reaktion auf eine eventuelle spätere Tat negativ auswirken, so dass der Angeklagte in einem solchen Fall durch den Ausspruch über die Aussetzung beschwert ist.
2. Günstige Prognose
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Voraussetzung ist die Erwartung, dass der Jugendliche bzw. Heranwachsende künftig einen rechtschaffenen Lebenswandel führen wird, und zwar auf Grund der Möglichkeiten in der Bewährungszeit und ohne die Einwirkung des Strafvollzuges. Die Strafaussetzung ist damit sowohl von einer günstigen Sozial- als auch von einer positiven Sanktionsprognose abhängig.
a) Sozialprognose
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Die Erwartung eines „rechtschaffenen Lebenswandels“ in § 21 Abs. 1 (sowie § 88) scheint über das Ziel, künftig keine Straftaten mehr zu begehen (§§ 56, 57 StGB), hinauszugehen und eher auf ein Leben ohne Straftaten „in sozialer Verantwortung“ (§ 2 StVollzG) abzustellen. Die weitergehende Forderung wird mit dem Erziehungsgedanken begründet und dient der „geistig-charakterlichen Formung des gesamten Menschen“ (Brunner/Dölling § 21 Rn. 6c). Da aber auch das Jugendstrafrecht Strafrecht ist und die Straftat den Anknüpfungspunkt für jugendstrafrechtliche Sanktionen bildet, kann auf Grund dieses rechtlichen Zusammenhangs Erziehung nach dem JGG nicht die charakterliche Heranbildung junger Menschen bezwecken, sondern nur die Verhinderung weiterer Straftaten (§ 5 Rn. 4; BVerfG NStZ 87, 275; Ostendorf § 21 Rn. 26). Der Begriff „rechtschaffener Lebenswandel“ ist deswegen restriktiv als „Leben ohne Straftaten“ zu interpretieren.
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Der Wahrscheinlichkeitsgrad künftig straffreien Verhaltens darf angesichts der Dynamik des Erwachsenwerdens nicht zu hoch angesetzt werden. Erwartung ist deutlich weniger als Gewissheit und etwas mehr als nur eine bloße Hoffnung. Brunner/Dölling § 21 Rn. 3 und 6c fordern zutreffend Mut zum Risiko und die Bereitschaft, auch Enttäuschungen auf sich zu nehmen. Nur „von vornherein zum Scheitern verurteilte Experimente“ sollen vermieden werden.