Handbuch der Europäischen Aktiengesellschaft - Societas Europaea. Hans-Peter Schwintowski
Ausgehend von dem so beschriebenen Normzweck ist das Verhalten des Vorstands jeweils im Einzelfall auf die Haftungsrelevanz zu überprüfen. Zu berücksichtigen ist dabei, dass § 93 AktG zwingendes Recht ist und weder durch die Satzung noch durch den Anstellungsvertrag oder einen Hauptversammlungsbeschluss (arg.e. § 93 Abs. 4 S. 3 AktG) eingeschränkt werden kann.[40]
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Der Grundtatbestand des § 93 Abs. 1 S. 1 AktG ordnet an, dass die Vorstandsmitglieder bei ihrer Geschäftsführung die Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters anzuwenden haben. Die Beschreibung der Sorgfaltspflichten hat dabei eine doppelte Funktion. Es wird einerseits der Sorgfaltsmaßstab festgelegt, dem die Vorstandsmitglieder unterliegen, und damit das ihrer Haftung gem. § 93 Abs. 2 S. 1 AktG zugrunde liegende Verschulden festgelegt (subjektive Pflichtwidrigkeit), zum anderen wird ein allgemeiner Auffangtatbestand geschaffen, auf den sich alle Pflichtverletzungstatbestände zurückführen lassen (objektive Pflichtwidrigkeit).[41]
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Die Haftung des Vorstandsmitglieds beginnt, da es sich um eine Organhaftung handelt, spätestens mit der Bestellung des Vorstandsmitglieds und seiner Annahme der Bestellung. Ob ein Anstellungsvertrag besteht, ist unerheblich.[42] Für die Haftung des Vorstands nach § 93 AktG ist es ebenfalls unerheblich, ob ein rechtswirksamer Bestellungsakt vorliegt. Auch die ohnehin nur deklaratorische Eintragung im Handelsregister ist nicht haftungsbegründend. Die Haftung beginnt nach allgemeiner Meinung bei fehlerhafter Bestellung oder fehlender Annahme der Bestellung in dem Zeitpunkt, in dem das Amt des Vorstandsmitglieds mit Wissen des Aufsichtsrats tatsächlich ausgeübt wird.[43]
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Umstritten ist, ob bei gänzlichem Fehlen eines Bestellungsakts das sog. faktische Organ gem. § 93 AktG haftet. Teilweise wird dies mit der Begründung abgelehnt, dass bloß tatsächliche Umstände keine rechtliche Sonderverbindung begründen können, die eine Haftung auslöst.[44] Die dadurch entstehenden Haftungslücken sind jedoch nicht akzeptabel und dogmatisch auch nicht zwingend notwendig. Wenn die Geschäftsführung Ansatzpunkt für die Haftung gem. § 93 AktG ist, dann muss sie auch Ausgangspunkt für die Entscheidung sein, wer als Organ haftet. Wer die Geschäftsführungsaufgaben mit Billigung des Aufsichtsrats übernimmt, haftet unabhängig davon, ob er überhaupt als Organ bestellt wurde, für sein faktisches Organhandeln und kann sich nicht auf die fehlende Bestellung berufen.[45]
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Die Haftung endet mit der Beendigung des Vorstandsamts.[46] Beim faktischen Vorstandsmitglied endet die Haftung dann, wenn es keine faktischen Organtätigkeiten tatsächlich mehr ausübt. Eine Haftung kann für nachwirkende Organpflichten, wie z.B. die Verschwiegenheitspflicht aus § 93 Abs. 1 S. 2 AktG auch nach Beendigung des Organverhältnisses fortbestehen.[47]
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Ein Anspruch aus § 93 Abs. 2 S. 1, Abs. 1 S. 1 AktG hat folgende Voraussetzungen:[48] Aktivlegitimiert sind die Gesellschaft, vertreten durch den Aufsichtsrat (§ 112 AktG), Gesellschaftsgläubiger gem. § 93 Abs. 5 AktG oder ein besonderer Vertreter gem. § 147 Abs. 2 AktG. Passivlegitimiert ist das Vorstandsmitglied, ein faktisches Vorstandsmitglied, im Falle des § 116 AktG das Aufsichtsratsmitglied, gem. § 39 SEAG das Verwaltungsratsmitglied und gem. § 40 Abs. 8 SEAG der geschäftsführende Direktor. Es muss eine Pflichtverletzung gem. § 93 Abs. 1 AktG vorliegen. Die Pflichtverletzung muss schuldhaft erfolgt sein. Durch die Pflichtwidrigkeit muss der Gesellschaft ein Schaden entstanden sein. Es darf kein Anspruchsausschluss gem. § 93 Abs. 4 AktG gegeben sein. Der Anspruch darf nicht gem. § 93 Abs. 6 AktG verjährt sein.
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Wie bereits ausgeführt,[49] ist Schutzzweck der Norm, eine Schädigung der Gesellschaft zu verhindern. Aktionäre können aus § 93 Abs. 2 S. 1 AktG keine eigenen Ansprüche herleiten. Die Norm schützt ihre Vermögensansprüche nur mittelbar und ist kein Schutzgesetz i.S.d. § 823 Abs. 2 BGB.[50] Auch Dritte, z.B. Gläubiger der Gesellschaft, können aus § 93 Abs. 2 AktG keine Schadensersatzansprüche ableiten. Auch ihnen gegenüber ist § 93 Abs. 1 und 2 kein Schutzgesetz i.S.d. § 823 Abs. 2 BGB.[51]
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Denkbar sind deliktsrechtliche Ansprüche der Aktionäre und der Gesellschaftsgläubiger aus § 826 BGB und § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. § 266 f. StGB, § 92 AktG.[52]
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Soweit Aktionäre nach diesen Normen eigene Ansprüche gegen den Vorstand haben, kann sich das sog. Problem des Doppelschadens stellen. Ein solcher Doppelschaden liegt dann vor, wenn das Vermögen des Aktionärs direkt nur durch die Wertminderung seiner Aktien geschädigt ist. Ein direkter Anspruch des Aktionärs gegen das Vorstandsmitglied kann grundsätzlich nur dann eintreten, wenn der Aktionär den Schaden der Gesellschaft ausgeglichen hat oder einen gesonderten unmittelbaren Schaden erlitten hat. Wenn der Schaden des Aktionärs lediglich der Reflex des der Gesellschaft entstandenen Schadens darstellt, kann der Aktionär keinen Anspruch auf Zahlung an sich, sondern lediglich Leistung an die Gesellschaft verlangen.[53]
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Da die Gesellschaftsgläubiger, abgesehen von den beschriebenen deliktischen Ansprüchen, keinen eigenen Anspruch gegen die Gesellschaft haben, müssten sie bei einer Schädigung durch das Vorstandshandeln einen Titel gegen die Gesellschaft erwirken und aus diesem Titel dann einen Pfändungs- und Überweisungsbeschluss (§§ 829, 835 ZPO) in die Schadensersatzansprüche der Gesellschaft gegen den Vorstand gem. § 93 AktG erwirken. Um diesen umständlichen Weg abzukürzen, räumt § 93 Abs. 5 AktG den Gläubigern unter bestimmten Voraussetzungen die Möglichkeit ein, den Ersatzanspruch direkt gegenüber dem Vorstand geltend zu machen. Streitig ist, ob der Gläubiger den Anspruch im Wege der Prozessstandschaft[54] oder einen eigenen Anspruch gegen die Vorstandsmitglieder geltend macht, dessen Bestand mit dem Gesellschaftsanspruch verknüpft ist.[55] Gegen eine Prozessstandschaft spricht, dass der Gläubiger gem. § 93 Abs. 5 AktG zuvor eine Leistung an sich selbst verlangen kann, aber eine Überweisung zur Einziehung entsprechend § 835 Abs. 1 1. Fall ZPO nicht angenommen werden kann, weil das Vorstandsmitglied auch bei Geltendmachung des Anspruchs durch den Gläubiger mit schuldbefreiender Wirkung an die Gesellschaft leisten kann. Deshalb wird man davon auszugehen haben, dass es sich um eine materielle Anspruchsvervielfältigung handelt.[56] Der Anspruch kann vom Gesellschaftsgläubiger in allen Fällen des § 93 Abs. 3 AktG und bei Vorliegen der Voraussetzungen der Generalklausel des § 93 Abs. 1 S. 1 AktG dann geltend gemacht werden, wenn die Sorgfaltspflichten gröblich verletzt wurden.
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Aus der eigenverantwortlichen Leitung der Gesellschaft gem. § 76 Abs. 1 AktG folgt die Pflicht des Vorstands, den Vorteil der Gesellschaft zu wahren und Schaden von ihr abzuwenden. Er hat sich so zu verhalten, wie ein pflichtbewusster selbständig tätiger Leiter eines Unternehmens vergleichbarer Art, der treuhänderisch fremde Vermögensinteressen wahrnimmt, zu handeln hat. Der Sorgfaltsmaßstab richtet sich nach dem in der konkreten Unternehmenssituation Erforderlichen und nicht nach den Usancen im Unternehmen oder dem in der Branche Üblichen. Die Sorgfaltspflicht wird durch die Vorschriften des AktG und etwaige Vorgaben im Anstellungsvertrag konkretisiert.[57]
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Um ihren umfassenden Aufgaben zu entsprechen, müssen die Vorstandsmitglieder die für die Wahrnehmung ihrer Leitungsaufgabe erforderlichen Kenntnisse und Fähigkeiten besitzen. Sie können sich nicht darauf berufen, für die Gesellschaft erforderliche Entscheidungen mangels besonderer Kenntnisse nicht treffen zu können.[58]
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Das Hauptproblem der Bestimmung