Handbuch der Europäischen Aktiengesellschaft - Societas Europaea. Hans-Peter Schwintowski
führt nicht zum Haftungsausschluss.[77] Auch die Billigung des Vorstandshandelns durch den Aufsichtsrat führt gem. § 93 Abs. 4 S. 2 AktG nicht zu einem Haftungsausschluss gegenüber dem Vorstand. Durch die Billigung kann allerdings eine zusätzliche Haftung des Aufsichtsrats gem. § 116 i.V.m. § 93 AktG eintreten.[78]
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Auch die nachträgliche Billigung des Vorstandshandelns und ein Verzicht auf Schadensersatzansprüche sind nur unter engen Voraussetzungen möglich. Gem. § 93 Abs. 4 S. 3 AktG kann ein Verzicht oder ein Vergleich nur auf der Grundlage eines Hauptversammlungsbeschlusses nach Ablauf von drei Jahren nach Entstehen des Anspruchs abgeschlossen werden. Zusätzliche Voraussetzung ist, dass nicht eine Minderheit, die 10 % des Grundkapitals hält, Widerspruch erhebt.[79]
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Die Ansprüche gegen die Vorstandsmitglieder verjähren nunmehr[80] gem. § 93 Abs. 6 AktG bei Gesellschaften, die zum Zeitpunkt der Pflichtverletzung börsennotiert sind, in zehn Jahren, bei anderen Gesellschaften in fünf Jahren. Für Organe von Kreditinstituten gilt gem. § 52a Abs. 1 KWG unabhängig von der Börsennotierung die zehnjährige Verjährungsfrist. Die Verjährungsfrist kann weder im Anstellungsvertrag noch durch die Satzung verlängert oder verkürzt werden. Die Regelung in § 93 Abs. 6 AktG ist abschließend und zwingend.[81] Die Verjährungsfrist gilt für alle Ansprüche der Gesellschaft, egal ob sie von Gläubigern gem. § 93 Abs. 5 AktG geltend gemacht werden oder ob es sich um eine schwerwiegende Pflichtverletzung gem. § 93 Abs. 3 AktG handelt. Sofern neben der Haftung aus § 93 AktG Ansprüche aus einer positiven Vertragsverletzung des Anstellungsvertrages konkurrierend angenommen werden,[82] verjähren Ansprüche aus einer positiven Verletzung des Anstellungsvertrages ebenfalls gem. § 93 Abs. 6 AktG in zehn Jahren bei börsennotierten Gesellschaften und im Übrigen in fünf Jahren.[83] Alle sonstigen Schadensersatzansprüche gegen die Vorstandsmitglieder verjähren selbständig nach den für sie geltenden Verjährungsvorschriften.[84]
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§ 93 Abs. 6 AktG enthält für den Beginn und das Ende der Verjährung keine gesonderten Regelungen, sodass die allgemeinen Verjährungsvorschriften des BGB zur Anwendung kommen. Die Verjährung beginnt damit gem. § 200 BGB mit der Entstehung des Anspruchs als objektivem Umstand. Im Gegensatz zum früheren Recht ist damit für den Beginn der Verjährungsfrist nicht die Kenntnis bzw. das Kennenmüssen des Anspruchsberechtigten der anspruchsbegründenden Tatsachen erforderlich. Vielmehr knüpft der Beginn der Verjährung an die erstmalige Möglichkeit der Geltendmachung des Anspruchs durch Klage an.[85] Es ist zu beachten, dass die zehnjährige Verjährungsfrist auch auf vor dem 15.12.2010 entstandene, aber zu diesem Zeitpunkt noch nicht verjährte Ansprüche anzuwenden ist.[86]
6.3 Änderungen nach dem UMAG
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Mit dem Gesetz zur Unternehmensintegrität und Modernisierung (UMAG) ist am 1.11.2005 eine der bedeutendsten und systemrelevantesten Reformen in Kraft getreten.[87] Das Gesetz beruht auf Vorschlägen der Regierungskommission Corporate Governance und setzt die im TransPuG und im Spruchverfahrensneuordnungsgesetz begonnene Neuordnung des Gesellschaftsrechts fort. Ein Schwerpunkt des UMAG ist die Neugestaltung des Rechts der Innenhaftung der Verwaltungsorgane. Daneben ist das Anfechtungsrecht reformiert worden.
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Die Schwerpunkte des Gesetzes, die Reformierung der Innenhaftung der Verwaltungsorgane und des Anfechtungsrechts, stehen in unmittelbarem Zusammenhang. Ziel war es, bei den aktienrechtlichen Schutzmechanismen eine Gewichtsverlagerung von der Anfechtungsklage zur Haftungsklage zu erreichen.[88] Dementsprechend wurde die Durchsetzung der Haftungsklage verbessert, indem es nun einer Minderheit als gesetzlicher Prozessstandschafter erlaubt ist, ein gerichtliches Zulassungsverfahren anzustrengen und im Falle der Zulassung die Klage selbst zu führen.[89]
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Die Innenhaftung der Verwaltungsorgane wurde durch das UMAG entsprechend der von der Rechtsprechung[90] entwickelten Business Judgement Rule[91] in positives Recht gegossen.[92] Art. 1 Ziff. 1 des UMAG fügt als neuen § 93 Abs. 1 S. 2 AktG folgende Regelung ein: „Eine Pflichtverletzung liegt nicht vor, wenn das Vorstandsmitglied bei einer unternehmerischen Entscheidung ohne grobe Fahrlässigkeit annehmen durfte, auf der Grundlage angemessener Information zum Wohl der Gesellschaft zu handeln.“
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Gerade im Hinblick auf aufsehenerregende Prozesse in der Vergangenheit hat sich das praktische Bedürfnis für eine gesetzliche Regelung unternehmerischer Fehlentscheidungen zu einer einheitlichen und rechtssicheren Beurteilung des Organhandelns gezeigt.[93]
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Durch die gesetzliche Einführung der Business Judgement Rule, die bereits vom BGH in der ARAG-Garmenbeck-Entscheidung[94] angewandt wurde, ist ein „sicherer Hafen“ für das Organhandeln geschaffen worden, der der gerichtlichen Überprüfung entzogen ist.[95] Klarzustellen ist, dass die Haftungsprivilegierung des neuen § 93 Abs. 1 S. 2 AktG ebenso wie die vom BGH geregelte Anwendung der Business Judgement Rule nur für Ermessensentscheidungen und nicht für Verstöße gegen das Gesetz oder die Satzung gilt.[96]
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Die gesetzliche Regelung ist allerdings über die vom BGH entwickelte Anwendung der Business Judgement Rule hinausgegangen, da eine Befreiung von der Organhaftung auch für den Fall der Verletzung grundlegender Sorgfaltspflichten bei der Informationsbeschaffung normiert wurde. Denn im Gegensatz zur bisherigen Rechtsprechung reicht es nach der gesetzlichen Neuregelung in § 93 Abs. 1 S. 2 AktG aus, dass das Organ annehmen durfte, seine Entscheidung auf der Basis angemessener Informationen getroffen zu haben. In der Literatur wird bezweifelt, ob damit nicht der Haftungsfreiraum der Organe zu stark erweitert wurde und ob eine Organhaftung für die Verletzung von Sorgfaltspflichten bei der Informationsbeschaffung ohne grobe Fahrlässigkeit notwendig ist.[97]
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Das Argument, der Unternehmensleiter sei auch dann ausreichend geschützt, wenn seine Entscheidung auf der Basis einer objektiv angemessenen Informationsgrundlage erfolge,[98] verkennt, dass auch die Beschaffung der erforderlichen Informationen bzw. die Sicherstellung einer ausreichenden Informationsgrundlage zur unternehmerischen Leitung gehört und damit selbst dem unternehmerischen Ermessen unterliegt. Konsequenterweise sollte das Haftungsprivileg daher auch für die Informationsbeschaffung gelten. Dafür spricht auch, dass die Abgrenzung dahingehend, ob die unternehmerische Entscheidung selbst oder die ihr zugrunde liegende Informationsgrundlage bereits fehlerhaft waren, im Einzelfall schwer vorzunehmen sein wird.[99]
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Teilweise wird angenommen, dass die Haftungsprivilegierung in § 93 Abs. 1 S. 2 AktG im Widerspruch zur Beweislastumkehr in § 93 Abs. 2 S. 2 AktG steht. Begründet wird dies damit, dass Ausgangspunkt der jetzt in das Gesetz übernommenen Business Judgement Rule die Vermutung eines rechtmäßigen Handelns des Vorstandsmitglieds sei. Demnach obliege es nicht mehr dem Vorstand, darzulegen, dass eine Pflichtverletzung nicht vorliegt, sondern die Gesellschaft werde im Zulassungsverfahren gem. § 147a AktG das Vorliegen einer Sorgfaltspflichtverletzung nachweisen müssen.[100] Diese Betrachtungsweise entspricht nicht der Gesetzessystematik. Die Beweislastverteilung in § 93 Abs. 2 S. 2 AktG[101] wird durch die gesetzliche Neuregelung nicht modifiziert. Auch weiterhin muss der Vorstand nachweisen, dass er ohne grobe Fahrlässigkeit im Rahmen seines unternehmerischen Ermessens auf der Basis angemessener Information seine Entscheidung getroffen hat.[102] Durch die gesetzliche Neuregelung wird lediglich der Haftungsmaßstab im Sinne der Schaffung eines unternehmerischen Freiraums vergrößert. Ob sich die Entscheidung im Rahmen dieses unternehmerischen Freiraums befindet, muss weiterhin der Vorstand darlegen und beweisen. Teilweise wird dies auch unter der gesetzlichen Neuregelung als erhebliche Gefahrerhöhung hin zu einer persönlichen Haftung des Organs eingeordnet