Verteidigung in Mord- und Totschlagsverfahren. Steffen Stern
30 Minuten eine natürliche Handlungseinheit bilden, wenn die Täter das zunächst nur verletzte Opfer, das sie für tot gehalten haben, nach Erkennen ihres Irrtums töten[26]. Bei einem eng zusammenhängenden, zäsurlosen Geschehen, das auf einer einheitlichen Motivation beruht (z.B. Vergeltung für erlittene Misshandlungen oder Demütigungen), kann allein der Übergang vom Körperverletzungs- zum Tötungsvorsatz die Annahme zweier selbstständiger Taten nicht bewirken[27]. Auch eine Veränderung des Tatplans während der Tatausführung steht dann der Annahme natürlicher Handlungseinheit nicht grundsätzlich entgegen[28]. Auch für die Beurteilung einzelner Versuchstaten (gegen ein und dasselbe Opfer) ist eine entsprechende Gesamtbetrachtung vorzunehmen, wobei allerdings eine tatbestandliche Handlungseinheit mit dem Fehlschlagen des Versuchs endet[29].
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Allenfalls dann, wenn nach dem für möglich gehaltenen Scheitern des ursprünglichen Tatplans der Täter aufgrund eines neuen Entschlusses das Tatmittel wechselt und mit ihm nacheinander – mit einer deutlichen zeitlichen Zäsur – zwei Opfer tötet, ist der Zusammenhang zwischen den Tatausführungen nicht mehr so eng, als dass die Annahme einer natürlichen Handlungseinheit geboten wäre[30]. Anders als in Fällen, in denen der Täter ohne Zäsur im Tatgeschehen und mit gleicher Motivation vom Körperverletzungs- zum Tötungsvorsatz übergeht, stellt sich ein zweiaktiges Delikt mit Vorliegen einer Zäsur und Änderung der Motivationslage nicht als natürliche Handlungseinheit dar. Auch mehrere selbstständige Mordversuche gegen verschiedene Menschen werden nicht durch andauernde Versuche der räuberischen Erpressung zu einer natürlichen Handlungseinheit verklammert[31].
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Bei mehraktigem Vorgehen kann aber auch der einheitliche Todeserfolg der Handlung zur Annahme von Tateinheit zwingen: Der Täter hatte die Geschädigte aus Verärgerung über den ihm verweigerten Geschlechtsverkehr zunächst mit bedingtem Tötungsvorsatz fünfzehn Sekunden lang gewürgt, hatte dann, als diese laute Todesschreie ausstieß, ihr – um auch seine Strafverfolgung zu verhindern – mehrfach mit Tötungsabsicht mittels eines Zimmermannshammers Schläge auf den Kopf versetzt und hatte schließlich in der irrigen Annahme, sie sei tot, einen Wohnungsbrand gelegt. Sie verstarb an den Folgen der Halskompression, des Schädel-Hirn-Traumas und der Brandverletzungen; jede der Verletzungen hätte für sich genommen in unterschiedlichem Zeitablauf zum Tode geführt. Während das SchwurG von Tatmehrheit zwischen Mord und Brandstiftung mit Todesfolge ausgegangen war, stellte der BGH klar, dass die Geschädigte infolge der Kombination aller gegen sie gerichteten Gewalthandlungen, auch des Brandes, verstorben war, sodass der einheitliche Erfolg der Handlung – der Tod der Geschädigten – die Straftatbestände des Mordes und der qualifizierten Brandstiftung zur Tateinheit verband[32].
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Ist nicht aufklärbar, ob eine dem Tötungsdelikt unmittelbar vorausgegangene Körperverletzungshandlung nicht auch mit Tötungsvorsatz erfolgt war, ist die Annahme zweier selbstständiger Taten verwehrt und stattdessen nach dem Grundsatz „Im Zweifel für den Angeklagten“ das Gesamtgeschehen als ein in natürlicher Handlungseinheit begangenes vorsätzliches Tötungsdelikt zu werten[33]. Versucht der Staatsanwalt, zusammenhängende Sachverhalte künstlich aufzuspalten, um mit Hilfe mehrerer Freiheitsstrafen eine möglichst hohe Gesamtstrafe fordern zu können, ist dem unter Hinweis auf diese BGH-Rechtsprechung entgegenzutreten.
Teil 3 Grundzüge des materiellen Kapitalstrafrechts › B › III. Tatrichterlicher Beurteilungsspielraum
III. Tatrichterlicher Beurteilungsspielraum
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Im Einzelfall kann die Frage, ob natürliche Handlungseinheit oder Tatmehrheit vorliegt, einen Beurteilungsspielraum für den Tatrichter eröffnen. Die Überprüfung durch das Revisionsgericht ist dann darauf beschränkt, ob die tatrichterliche Bewertung vertretbar ist und nicht von unzutreffenden Maßstäben ausgeht. Hält sie dieser Überprüfung stand, so ist sie – unbeschadet der Frage, ob auch eine andere Beurteilung möglich wäre – vom Revisionsgericht hinzunehmen[34].
Anmerkungen
BGH Beschl. v. 18.04.1996 – 4 StR 89/96, StV 1996, 481; Urt. v. 27.03.1953 – 2 StR 801/52, BGHSt 4, 219 [220]; Urt. v. 16.07.1968 – 1 StR 25/68, BGHSt 22, 206 [209] = NJW 1968, 1973.
BGH Urt. v. 15.06.2005 – 1 StR 499/04, NStZ-RR 2007, 195; für mehraktiges Geschehen.
BGH Urt. v. 19.11.2009 – 3 StR 87/09, NStZ-RR 2010, 140.
BGH Urt. v. 24.02.1994 – 4 StR 683/93, StV 1994, 537 [538].
BGH Urt. v. 01.04.2009 – 2 StR 571/08, NStZ 2009, 501 = StraFo 2009, 246.
BGH Urt. v. 19.11.2009 – 3 StR 87/09, NStZ-RR 2010, 140; Urt. v. 28.10.2004 – 4 StR 268/04, NStZ 2005, 262.
BGH Urt. v. 07.10.1997 – 1 StR 418/97, NStZ-RR 1998, 203; Beschl. v. 14.02.1990 – 2 StR 34/90, StV 1990, 544.
BGH Beschl. v. 24.10.2000 – 5 StR 323/00, NStZ-RR 2001, 82.
BGH Urt. v. 31.07.1996 – 1 StR 270/96, StV 1997, 128
BGH Urt. v. 09.09.2003 – 5 StR 126/03, StV 2004, 205 = NStZ-RR 2004, 14; Beschl. v. 24.10.2000 – 5 StR 323/00, NStZ-RR 2001, 82.
BGH Urt. v. 06.02.2003 – 4 StR 450/02.
BGH Urt. v. 18.12.2002 – 2 StR 149/02, NStZ 2003, 366.
BGH Beschl. v. 16.10.2001 – 4 StR 415/01.
BGH Beschl. v. 21.11.2000 – 4 StR 354/00, NJW 2001, 838
BGH Urt. v. 28.10.2004 – 4 StR 268/04, NStZ 2005, 262.
BGH