Verteidigung in Mord- und Totschlagsverfahren. Steffen Stern
auf dem Gebiet der Kapitaldelinquenz hatte sich der BGH wiederholt mit der Frage zu befassen, ob die sukzessiven Angriffe auf ein und dieselbe Person oder auf eine Mehrzahl von Personen, wenn sie in engem zeitlichen und räumlichen Zusammenhang erfolgen, als eine einzige oder verschiedene Taten im Rechtssinn zu betrachten sind. Jeweils stand die Annahme natürlicher Handlungseinheiten zur Diskussion. Angesichts extremer Strafandrohungen kann dieser Frage in praxi womöglich große Bedeutung zukommen.
239
Die natürliche Handlungseinheit bewirkt Tateinheit, wenn durch das Geschehen mehrere Strafgesetze verletzt werden oder dasselbe Strafgesetz mehrmals. Die Rechtsprechung erkennt eine natürliche Handlungseinheit im Allgemeinen an, wenn zwischen einer Mehrheit gleichgearteter, strafrechtlich erheblicher Verhaltensweisen, die von einem einheitlichen Willen getragen werden, ein derart unmittelbarer räumlich-zeitlicher (und situativer) Zusammenhang besteht, dass das gesamte Handeln auch für einen Dritten (objektiv) bei natürlicher Betrachtungsweise als ein einheitliches, zusammengehöriges Tun erscheint[1]. Auch hinsichtlich der Frage, ob eine natürliche Handlungseinheit vorliegt, findet der Zweifelssatz Anwendung[2].
Teil 3 Grundzüge des materiellen Kapitalstrafrechts › B › I. Natürliche Handlungseinheit bei mehreren Tatopfern
1. Tatmehrheit bei höchstpersönlichen Rechtsgütern
240
Im Grundsatz hat der BGH hervorgehoben, dass bei Angriffen auf Leben und Gesundheit einer Mehrzahl von Personen jeweils andere höchstpersönliche Rechtsgüter verletzt werden und mehrere darauf gerichtete Willensbetätigungen weder durch ihre Aufeinanderfolge noch durch einen einheitlichen Tatplan und Vorsatz zu einer natürlichen Handlungseinheit und damit zu einer Tat im Rechtssinne werden können[3]. Es dürfe, so der BGH, nicht außer Acht gelassen werden, dass höchstpersönliche Rechtsgüter verschiedener Personen, insbesondere das Leben von Menschen, einer additiven Betrachtungsweise, wie sie der natürlichen Handlungseinheit zugrunde liege, nur ausnahmsweise zugänglich seien. Greife daher der Täter einzelne Menschen nacheinander an, um jeden von ihnen in seiner Individualität zu vernichten, so bestünde sowohl bei natürlicher als auch bei rechtsethisch wertender Betrachtungsweise selbst bei einheitlichem Tatentschluss und engem räumlichen und zeitlichen Zusammenhang regelmäßig kein Anlass, diese Vorgänge rechtlich als eine Tat zusammenzufassen[4].
2. Ausnahmefälle
241
Dieser Grundsatz gilt jedoch nicht ausnahmslos; dem BGH zufolge kann eine natürliche Handlungseinheit im Einzelfall auch dann vorliegen, wenn es um die Beeinträchtigung höchstpersönlicher Rechtsgüter verschiedener Personen geht[5]. Die Annahme einer natürlichen Handlungseinheit in derartigen Fällen ist dann gerechtfertigt, wenn eine Aufspaltung in Einzeltaten wegen eines außergewöhnlich engen zeitlichen und situativen Zusammenhangs willkürlich und gekünstelt erscheint[6].
242
Mit Tötungsvorsatz geführte gewalttätige Angriffe gegen mehrere Personen, vor allem mit einem Messer[7] oder einer Schusswaffe[8], stellen sich demnach ausnahmsweise als natürliche Handlungseinheit und damit als eine einzige Tat im Rechtssinne dar, wenn sie von einem einheitlichen Willen getragen sind und aus räumlich sowie zeitlich unmittelbar zusammenhängenden Aktionen bestehen. Ein solcher Ausnahmefall kann etwa bei vier ungezielten Schüssen in schneller Folge[9] oder bei mehreren Schüssen auf zwei Personen innerhalb weniger Sekunden gegeben sein[10] wie auch bei gegen mehrere Opfer gerichteten Tätlichkeiten mit bloßer körperlicher Gewalt[11], zumal dann, wenn die Angriffe zeitgleich und wechselweise erfolgen[12]. Nichts anderes gilt, wenn der Täter aufgrund eines einheitlichen Tötungsentschlusses mit einem Messer wechselseitig, in räumlich und zeitlich unmittelbar zusammenhängender Weise[13] oder innerhalb weniger Sekunden ohne jegliche zeitliche Zäsur[14] mehrfach auf zwei Personen einsticht. Das gilt allerdings nicht, wenn sich der Täter erst während der Tathandlung gegen das erste Opfer zur Tötung des zweiten Opfers entschieden hat[15]. Auch mehrere Schüsse, die der Täter auf irgendwelche anderen Personen abgibt, die er als Zielobjekte aus einer Menge oder Menschengruppe zufällig erfasst, können eine natürliche Handlungseinheit bilden, solange das Verhalten des Täters von einem einheitlichen Willen getragen ist[16].
243
In Fällen der Polizeiflucht bilden alle im Verlauf einer ununterbrochenen Fluchtfahrt begangenen Gesetzesverletzungen nur eine Tat[17]. Auch dann ist natürliche Handlungseinheit anzunehmen, wenn der Täter im Zuge einer Amokfahrt nacheinander mehrere Menschen angreift und sich der Angriff von vornherein gegen eine nicht individualisierte Personenmehrheit richtet, der Kreis der Opfer sich zufällig ergibt und das Geschehen ohne Unterbrechung in einem engen zeitlichen Rahmen (wenige Sekunden) auf der Grundlage eines einheitlichen Tatentschlusses abläuft[18].
244
Die zeitliche Koinzidenz allein genügt für die Annahme einer natürlichen Handlungseinheit allerdings nicht[19]. Ersticht der Vater in einer Nacht seine beiden schlafenden Kinder, liegt nicht nur eine Tat im Rechtssinne vor, wenn zwischen der Tötung eine deutliche zeitliche Zäsur lag, die Tötung in unterschiedlichen Räumen erfolgte und er in der Zwischenzeit eine SMS verschickt und weiter getrunken hatte[20].
245
Hat der Angeklagte bei der Tat das eine Opfer getötet und das andere nur verletzt, tritt unter der Voraussetzung einer natürlichen Handlungseinheit das Körperverletzungsdelikt aus Gründen der Gesetzeskonkurrenz hinter das vorsätzliche Tötungsdelikt zurück. Verurteilt wird nur wegen einer Tat des Mordes oder Totschlags, wobei die Verwirklichung eines weiteren Tatbestands bei der Strafzumessung zuungunsten des Angeklagten berücksichtigt werden kann[21].
Teil 3 Grundzüge des materiellen Kapitalstrafrechts › B › II. Natürliche Handlungseinheit bei mehraktigem Tatgeschehen
II. Natürliche Handlungseinheit bei mehraktigem Tatgeschehen
246
Die mit bedingtem Tötungsvorsatz in Bestrafungsabsicht erfolgte Misshandlung eines Kindes, die das Kind schwer verletzt überlebt, und das – nach einer zeitlichen und situativen Zäsur von 30 Minuten – wohlüberlegte Ertränken des Opfers an anderer Stelle in einem Fluss, um die vorausgegangene Straftat zu verdecken, rechtfertigt in der Regel die Verurteilung wegen versuchten Totschlags und (in Tatmehrheit) wegen Mordes[22]. Natürliche Handlungseinheit ist unter Umständen aber dann gegeben, wenn zwei auf die Tötung eines bestimmten Opfers gerichtete Verletzungsakte durch eine weitere Handlung von nur kurzer Dauer unterbrochen werden, solange der zwischen beiden Akten bestehende enge Zusammenhang hierdurch nicht in Frage gestellt wird[23].
247
So bilden die einer Schussabgabe unmittelbar nachfolgenden Misshandlungen des tödlich getroffenen Opfers mit der vorausgegangenen vorsätzlichen Tötungshandlung ohne Weiteres eine natürliche Handlungseinheit[24]. Ein die natürliche Handlungseinheit begründendes enges zeitlich und räumlich zusammenhängendes Geschehen kann auch dann vorliegen, wenn zwischen einzelnen Akten des Tatgeschehens ein größerer zeitlicher Abstand liegt (20 Minuten), der nach dem Tatentschluss zur Umsetzung der Tat erforderlich war[25]. Mehrere