Verteidigung in Mord- und Totschlagsverfahren. Steffen Stern
im besonders schweren Fall gem. § 212 Abs. 2 StGB[39]. Unterbleibt künftig die Erwähnung der besonderen Schuldschwere im Urteilstenor, gilt dies als Nichtausspruch; die Feststellung besonderer Schuldschwere nur in den Urteilsgründen genügt nicht. Eine Ergänzung des Tenors nach abgeschlossener Urteilsverkündung ist nicht zulässig. Wird die Schuldschwere in den Gründen abgelehnt, bedarf es keines negatorischen Ausspruchs in der Urteilsformel[40]. Allerdings hat sich der Tatrichter, also regelmäßig das SchwurG, auf die Feststellung der Schuldschwere und ihres Ausmaßes zu beschränken. Die konkrete Zeitspanne, die der Verurteilte über 15 Jahre hinaus im Mindestmaß verbüßen sollte, bestimmt es nicht. Es hat sich über die Schuldschwerefeststellung hinaus jeder Äußerung zur Mindestverbüßungsdauer zu enthalten[41].
aa) Gesamtwürdigung von Täterpersönlichkeit und Tatgeschehen
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Die Feststellung besonderer Schuldschwere i.S.v. § 57a Abs. 1 S. 1 Nr. 2 StGB setzt voraus, dass das gesamte Tatbild einschließlich der Täterpersönlichkeit von den erfahrungsgemäß gewöhnlich vorkommenden Mordfällen so sehr abweicht, dass eine Strafaussetzung der lebenslangen Freiheitsstrafe nach 15 Jahren auch bei günstiger Täterprognose unangemessen wäre[42]. Dies hat der Tatrichter im Rahmen des Erkenntnisverfahrens ohne Bindung an begriffliche Vorgaben im Wege einer zusammenfassenden Würdigung von Tat und Täterpersönlichkeit zu treffen, wobei ein Bejahen nur möglich ist, wenn Umstände von Gewicht vorliegen. Dabei kommt es auf ein bloßes Zusammenzählen von Mordmerkmalen nicht an[43]. Insbesondere darf das Gericht nicht von einem falschen Regel-Ausnahme-Verhältnis ausgehen und die besondere Schuldschwere mit dem Hinweis aussprechen, dass keine hinreichenden Gründe dafür ersichtlich seien, von der Feststellung der besonderen Schuldschwere abzusehen. Mord wird im Regelfall „nur“ mit lebenslanger Freiheitsstrafe geahndet; die besondere Schwere der Schuld ist darüber hinaus nur „ausnahmsweise“ zu bejahen, soweit bei der erforderlichen Gesamtwürdigung von Täterpersönlichkeit und Tat hierfür sprechende Umstände von Gewicht festgestellt werden[44].
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Für die Gewichtung der Schuldschwere i.S.d. § 57a StGB gelten die gleichen Regeln wie für die Bemessung der Strafzumessungsschuld i.S.d. § 46 StGB. Auch für die Gewichtung der Strafzumessungsschuld, die Grundlage auch der Schuldschwerebeurteilung nach § 57a StGB ist, gilt der Grundsatz „in dubio pro reo“ uneingeschränkt. Deshalb dürfen Erörterungen zur besonderen Schuldschwere nicht auf bloßen Vermutungen beruhen, wie etwa der, dass der Angeklagte einen bestimmten „Eindruck“ über seine Sichtweise der Tatvorwürfe vermittelt habe[45].
bb) Schulderschwerende Umstände
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Ausschlaggebend für die Feststellung der besonderen Schuldschwere können sein: einschlägige Vorstrafen[46], eine besonders verwerfliche Gesinnung[47] oder das Zusammentreffen mehrerer Mordmerkmale[48], wobei das Zusammentreffen zweier Mordmerkmale nicht schematisch zur Bejahung der besonderen Schuldschwere führt, sondern nur dann, wenn das weitere Merkmal im konkreten Fall schulderhöhende Umstände aufzeigt. Einem weiteren Mordmerkmal ist kein wesentliches Gewicht beizumessen, wenn es den Unrechts- und Schuldumfang nicht erweitert[49]. Die besondere Schuldschwere kommt, je nach Lage des Einzelfalls, zum Beispiel in Betracht beim Zusammentreffen von Heimtücke und niedrigen Beweggründen[50], bei Habgier und dem Mordmerkmal des Ermöglichens einer Straftat[51], Habgier und Heimtücke[52]sowie bei besonders brutalem Vorgehen[53].
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Nichts anderes gilt für eine Mehrzahl von Mordopfern oder Mordtaten[54]. Keine Frage, dass sich bei einem Vierfach-Mord[55] oder bei Morden an fünf Patienten[56] bzw. fünf Anhalterinnen[57], bei sechs Todesopfern einer Gasexplosion[58] oder, wie im Fall eines Krankenpflegers aus Sonthofen, der wegen Mordes in 12 Fällen und Totschlags in 15 Fällen für schuldig befunden wurde[59], die Annahme besonderer Schuldschwere von selbst versteht. Auch bei 3 Mordopfern wird bei vollständig erhaltener Schuldfähigkeit von einer besonders schweren Schuld des Täters auszugehen sein. Exemplarisch ist hier der Fall des voll schuldfähigen 66-jährigen Rentners zu nennen, der im September 2008 nach jahrelangem Streit in einer Schrebergartenanlage in Gifhorn aus nichtigem Anlass ein Kleingärtnerehepaar und dessen 33-jährigen Sohn mit einem Eichenholzknüppel erschlug[60]. Je nach Lage des Einzelfalls kann für die Schuldschwerefeststellung die Ermordung zweier Personen[61] genügen, eventuell auch schon ein Mordopfer neben einem (beim Mordversuch) Verletzten[62]. Es kann aber auch genügen, dass zu einem Mord weitere schwere Straftaten hinzukommen[63], insbesondere Vergewaltigungen[64] und sexueller Missbrauch von Kindern[65].
cc) Entgegenstehende Umstände
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Zugunsten des Angeklagten ist zu berücksichtigen, dass er nach seiner Festnahme sofort geständig war und sich die Beweiswürdigung maßgeblich auf die Geständnisse stützen konnte, auch wenn der Angeklagte sie später widerrufen hat[66]. Zur Begründung der besonderen Schuldschwere darf nicht herangezogen werden, dass der Angeklagte geschwiegen und keine Reue gezeigt[67] oder die Tat abgeschwächt und fälschlich ein Tötungsverlangen des Opfers behauptet habe[68]. Der BGH hat allerdings die Feststellung besonderer Schuldschwere in Bezug auf eine 35-jährige Arzthelferin bestätigt, die ihren schlafenden Ehemann im Bett erstochen und zu ihrer Verteidigung behauptet hatte, ihre eigene, damals 12-jährige Tochter habe schlafwandelnd den Vater getötet. Mit dieser unwahren Schuldzuweisung, mit der sie dauerhafte seelische Folgen für ihre Tochter in Kauf genommen hatte, hatte die Angeklagte die Grenzen zulässigen Verteidigungsverhaltens überschritten[69].
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Im Rahmen des § 57a StGB ist auch das Doppelverwertungsverbot des § 46 Abs. 3 StGB zu beachten. Unzulässig ist etwa die Erwägung, der kaltblütig agierende Angeklagte habe sich vor und während der Tatausführung nicht aus der Ruhe bringen lassen. Damit wird nachteilig berücksichtigt, dass die Tat überhaupt durchgeführt worden ist, anstatt den Tatplan aufzugeben. Die Feststellung der besonderen Schuldschwere kann tragfähig mit der Erwägung abgelehnt werden, dass der Angeklagte seinen Tatgenossen intellektuell unterlegen, nicht Motor und Verursacher des Mordkomplotts war und von selbst nicht auf die Idee der Tötung gekommen wäre[70]. Neben den in § 46 StGB genannten Parametern kann im Einzelfall der Schuldschwerefeststellung das fortgeschrittene Alter des Angeklagten (von 64 Jahren) entgegenstehen[71], aber auch, dass der Angeklagte in der seit der Tat verstrichenen Zeit (von 22 Jahren) ein sozial unauffälliges Leben geführt hat[72], oder dass, wie beim „Kannibalen von Rotenburg“, die Tötung mit Einverständnis des Opfers erfolgt war[73].
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Das Vorliegen verminderter Schuldfähigkeit schließt zwar die Annahme besonders schwerer Schuld nicht von vornherein aus[74]. Eine im Urteil des SchwurG festgestellte alkohol- und affektbedingte tiefgreifende Bewusstseinsstörung des Verurteilten im Tatzeitpunkt ist jedoch in die Bewertung der besonderen Schwere der Schuld auch dann einzubeziehen, wenn das SchwurG bei einer Schuldbewertung eine erhebliche Verminderung der Schuldfähigkeit i.S.d. § 21 StGB verneint hat[75].
b) Gesamtstrafe
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Bei der Verhängung einer lebenslangen Freiheitsstrafe als Gesamtstrafe sind nach § 57b StGB Anknüpfungspunkt für die Schuldschwereprüfung regelmäßig sämtliche der Gesamtstrafe zugrunde liegenden Taten[76]. Dabei sind allerdings mitabgeurteilte Straftaten unbeachtlich, die der leichten Kriminalität zuzurechnen sind[77]. Ein enger zeitlicher, örtlicher, situativer und motivatorischer Zusammenhang der einzelnen Straftaten kann der Annahme besonderer Schuldschwere entgegenstehen[78].