Verteidigung in Mord- und Totschlagsverfahren. Steffen Stern
zumeist früher oder später entlassen werden, weil sich ihre Gefährlichkeit so vermindert habe, dass eine Aussetzung zu verantworten sei; die volle Verbüßung der lebenslangen Freiheitsstrafe stelle die Ausnahme dar. Gegen eine der sozialen Wiedereingliederung abträglichen Rechtsanwendung durch die Vollzugsanstalt stünde dem Gefangenen im Einzelfall der Rechtsweg offen. Auch wenn für den zu lebenslanger Freiheitsstrafe Verurteilten nicht die Möglichkeit der Verlegung in ein psychiatrisches Krankenhaus nach § 63 StGB bestehe, sei nach geltendem Recht, um haftbedingten psychischen Belastungen Rechnung zu tragen, an die Verlegung eines Lebenslänglichen in eine sozialtherapeutische Anstalt zu denken. Im Falle einer Erkrankung habe der Gefangene nach § 58 StVollzG Anspruch auf Krankenbehandlung. Hier sei u.U. eine Verlegung in eine externe psychiatrische Einrichtung geboten. Ein weiteres Mittel, dem Lebenslänglichen einen „Rest an Lebensqualität“ zu gewährleisten, sieht das BVerfG[8] in Fällen, in denen der Freiheitsentzug schon über Jahrzehnte andauert, im Einräumen von Privilegien („privilegierter Vollzug“).
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Neuere Studien bestätigen hingegen, dass lange Haftstrafen kriminalpräventiv wenig effektiv sind, zumal die Haftzeit selten für die Wiedereingliederung genutzt werde[9].
Teil 3 Grundzüge des materiellen Kapitalstrafrechts › A › II. Tötungsdelikte mit „Lebenslang“ als Strafandrohung
II. Tötungsdelikte mit „Lebenslang“ als Strafandrohung
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Die Liste der Tötungsdelikte, für die das Strafgesetz – ohne §§ 6-8 Völkerstrafgesetzbuch (VStGB) – im Höchstmaß lebenslängliche Freiheitsstrafe androht, ist mittlerweile beachtlich lang:
Mord | § 211 StGB |
Totschlag im besonders schweren Fall | § 212 Abs. 2 StGB |
Sexueller Missbrauch von Kindern mit Todesfolge | § 176b StGB |
Vergewaltigung mit Todesfolge | § 178 StGB |
Sexueller Missbrauch widerstandsunfähiger Personen mit Todesfolge | § 179 Abs. 6 i.V.m. § 176b StGB |
Erpresserischer Menschenraub mit Todesfolge | § 239a Abs. 3 StGB |
Geiselnahme mit Todesfolge | § 239b Abs. 2 i.V.m. § 239a Abs. 3 StGB |
Raub mit Todesfolge | § 251 StGB |
Räuberischer Diebstahl mit Todesfolge | § 252 i.V.m. § 251 StGB |
Räuberische Erpressung mit Todesfolge | § 255 i.V.m. § 251 StGB |
Brandstiftung mit Todesfolge | § 306c StGB |
Herbeiführen einer Explosion durch Kernenergie mit Todesfolge | § 307 Abs. 1 und Abs. 3 Nr. 1 StGB |
Herbeiführen einer Sprengstoffexplosion mit Todesfolge | § 308 Abs. 1 und 3 StGB |
Missbrauch ionisierender Strahlen gegenüber einer unübersehbaren Zahl von Menschen mit Todesfolge | § 309 Abs. 2 und 4 StGB |
Herbeiführen einer Überschwemmung mit Todesfolge | § 313 i.V.m. § 308 Abs. 3 StGB |
Gemeingefährliche Vergiftung mit Todesfolge | § 314 i.V.m. § 308 Abs. 3 StGB |
Räuberischer Angriff auf Kraftfahrer mit Todesfolge | § 316a Abs. 3 StGB |
Angriff auf den Luft- und Seeverkehr mit Todesfolge | § 316c Abs. 3 StGB |
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Hinzu gekommen sind noch die Tatbestände des Nachstellens mit Todesfolge (§ 238 Abs. 3 StGB), des Freisetzens von Giften mit Todesfolge (§ 330a Abs. 2 StGB) und des Einschleusens mit Todesfolge (§ 97 Abs. 1 AufenthG)[10].
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Für Mord (§ 211 StGB) und den besonders schweren Fall des Totschlags (§ 212 Abs. 2 StGB) ist zwingend auf „Lebenslang“ zu erkennen; die Strafandrohung ist „absolut“. Bei allen übrigen Tatbeständen besteht die Wahlmöglichkeit zwischen „LL“ und zeitiger Freiheitsstrafe; die „Lebenslange Freiheitsstrafe“ wird also nur fakultativ angedroht.
Teil 3 Grundzüge des materiellen Kapitalstrafrechts › A › III. Absolute Strafandrohung und die Rechtsfolgenlösung des BGH
III. Absolute Strafandrohung und die Rechtsfolgenlösung des BGH
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Am 21.06.1977 hatte das BVerfG[11] auf einen Vorlagebeschluss des LG Verden über die Verfassungsmäßigkeit der lebenslangen Freiheitsstrafe für Mord zu entscheiden. Zu prüfen war, ob die Verhängung der lebenslangen Freiheitsstrafe für jeden Fall der „heimtückischen Tötung“ und der „Tötung zur Verdeckung einer anderen Straftat“ mit dem Verhältnismäßigkeitsprinzip zu vereinbaren sei. Das damalige Ergebnis: Die absolut angedrohte lebenslange Freiheitsstrafe sei nur dann verfassungsrechtlich unbedenklich, wenn dem Richter von Gesetzes wegen die Möglichkeit offen bleibe, in Härtefällen auf eine zeitige Freiheitsstrafe zu erkennen. Dass auch in Grenzfällen keine unverhältnismäßig hohe Strafe verhängt werden müsse, könne zum Beispiel durch eine restriktive Interpretation der betreffenden Mordmerkmale sichergestellt werden. Welchen Weg man rechtlich beschreite, um dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zu genügen, bleibe der Entscheidung des BGH überlassen.
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Mit Beschluss vom 19.05.1981 hat sich der Große Senat für Strafsachen des BGH[12] hinsichtlich exzeptioneller Konstellationen in Heimtückefällen für die sog. Rechtsfolgenlösung entschieden. Liegen außergewöhnliche Umstände vor, die das Ausmaß der Täterschuld erheblich mindern, tritt auf der Rechtsfolgenseite des Mordes an die Stelle lebenslanger Freiheitsstrafe der Strafrahmen des § 49 Abs. 1 Nr. 1 StGB. Zu der Frage, in welchen Fällen solche außergewöhnlichen Umstände anzunehmen sind, hat der Große Senat für Strafsachen des BGH ausgeführt: „Eine abschließende Definition oder Aufzählung der in Fällen heimtückischer Tötung zur Verdrängung der absoluten Strafdrohung des § 211 Abs. 1 StGB führenden außergewöhnlichen Umstände ist nicht möglich. Durch eine notstandsnahe, ausweglos erscheinende Situation motivierte, in großer Verzweiflung begangene, aus tiefem Mitleid oder aus ‚gerechtem Zorn‘ aufgrund einer schweren Provokation verübte Taten können solche Umstände aufweisen, ebenso Taten, die in einem vom Opfer verursachten und ständig neu angefachten, zermürbenden Konflikt oder in schweren Kränkungen des Täters durch das Opfer, die das Gemüt immer wieder heftig bewegen, ihren Grund haben.“
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