Verteidigung in Mord- und Totschlagsverfahren. Steffen Stern
href="#uf2e90b3f-1d9a-5932-88d7-f7d6067e80fc">B › I. Der strafrechtlich maßgebende Ursachenbegriff
1. Condicio-sine-qua-non-Formel
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Ursächlich ist jede Bedingung, die den Erfolg herbeigeführt hat; dabei ist gleichgültig, ob neben der Tathandlung noch andere Umstände, Ereignisse oder Geschehensabläufe zur Herbeiführung des Erfolgs beigetragen haben[1]. Auch bei Tötungsdelikten gilt für die juristische Kausalität die sog. Äquivalenztheorie: Jede aktive Handlung ist i.S. der Condicio-sine-qua-non-Formel kausal, die man nicht hinwegdenken kann, ohne dass der Erfolg in seiner konkreten Gestalt entfiele. Ein Unterlassen ist mit dem Erfolg „quasi-ursächlich“ verknüpft, wenn dieser beim Hinzudenken der gebotenen Handlung entfiele, wenn also die gebotene Handlung den Erfolg verhindert hätte[2]. Anders verhält es sich allerdings, wenn ein späteres Ereignis die Wirkung der Handlung beseitigt und unter Eröffnung einer neuen Kausalreihe den Erfolg allein herbeiführt. Dagegen schließt es die Ursächlichkeit des Täterhandelns nicht aus, dass ein weiteres Verhalten, sei es des Täters, sei es des Opfers, sei es auch Dritter, an der Herbeiführung des Erfolgs mitgewirkt hat[3].
2. Doppelkausalität
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Liegen mehrere Umstände vor, die alternativ, aber nicht kumulativ hinweggedacht werden können, ohne dass der Erfolg entfällt, so ist jeder für den Erfolg ursächlich. Demgemäß ist wegen vollendeten Tötungsverbrechens auch zu bestrafen, wer jemanden mit Tötungsvorsatz niedergeschossen und dadurch einen Dritten dazu veranlasst hat, dem Verletzten den „Gnadenschuss“ zu geben[4].
3. Lehre der objektiven Zurechnung
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Um die Haftung für fernliegende, atypische Kausalverläufe einzugrenzen, ist unter Anwendung der Lehre der objektiven Zurechnung zu ermitteln, ob in der fraglichen Handlung eine Gefahr enthalten war, die sich im konkreten Erfolg verwirklicht hat. Beispiel: Stirbt das Opfer nicht durch die ihm vom Angeklagten mit Tötungsvorsatz zugefügten Verletzungen, sondern infolge stressbedingten Herzversagens, ist diese Abweichungen vom vorgestellten Kausalverlauf rechtlich bedeutungslos, wenn sie sich innerhalb der Grenzen des nach allgemeiner Lebenserfahrung Voraussehbaren halten und keine andere Bewertung der Tat rechtfertigen. „Der Tod des Opfers durch Herzversagen ist nicht etwa Folge einer außerhalb jeder Wahrscheinlichkeit liegenden Verkettung unglücklicher Umstände, bei der eine Haftung des Angeklagten für den Erfolg ausscheiden würde. Die Abweichung vom vorgestellten Kausalverlauf ist vielmehr unwesentlich und rechtfertigt auch keine andere Bewertung der Tat, weil die Handlung des Angeklagten den Tod des Opfers einschloss und dieser aufgrund dessen alsbald eintrat“[5].
4. Naturwissenschaftliche Erkenntnisse
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Bei komplexen Wirkungszusammenhängen bedarf es für die Feststellung der Kausalität zumeist weiterer Überlegungen und eines Rückgriffs auf naturwissenschaftliche Erkenntnisse. Auch wenn es letztlich bei der Kausalitätsfrage um eine Rechtsfrage geht, hat das Gericht die Erkenntnisse der Wissenschaft, die Erfahrungssätze des täglichen Lebens und die Gesetze der Logik zu beachten. Setzt es sich über gesicherte naturwissenschaftliche Erkenntnisse, insbesondere gefestigtes medizinisches Erfahrungswissen, hinweg, verstößt es gegen materielles Recht[6].
Teil 2 Der Tod und seine strafrechtliche Zurechnung › B › II. Eigenhändige aktive Todesverursachung
II. Eigenhändige aktive Todesverursachung
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Für die Annahme eines strafrechtlich relevanten Kausalzusammenhangs reicht nach st. Rspr. die Feststellung aus, dass das Handeln den Eintritt des – womöglich ohnehin schon nahenden – Todes beschleunigt hat[7]. Der Beschleunigungseffekt der Handlung muss allerdings im konkreten Fall medizinisch begründbar und zur Überzeugung des Gerichts tatsächlich eingetreten sein.
1. Objektiv unklarer Ursachenzusammenhang
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Wie unendlich schwer es im Einzelfall sein kann, den medizinischen Zusammenhang zwischen einem bestimmten Verhalten und dem Tod eines Menschen strafrechtlich zu klären, veranschaulicht der vom BGH entschiedene „Dolantin-Fall“[8], bei dem es um die Wirkung von schmerzlindernden Medikamenten ging, die einer Sterbenden appliziert worden waren. Toxikologen, Gerichtsmediziner und Schmerzforscher stritten heftig, ob die Medikation oder allein das Grundleiden für den Tod der Patientin verantwortlich zu machen war. Die einen sprachen von einer letalen Dosis, die anderen schlossen eine Todesursächlichkeit aus. Das Urteil des SchwurG, das kurzerhand der These vom Ursachenzusammenhang gefolgt war und auf Mord bzw. Totschlag erkannt hatte, wurde u.a. deshalb aufgehoben, weil die Richter ihre „mutige“ Annahme nicht widerspruchsfrei zu begründen vermochten.
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Aufgehoben wurde auch die Verurteilung eines Angeklagten zu einer Freiheitsstrafe von 9 Jahren wegen Totschlags, der während eines einvernehmlichen Geschlechtsverkehrs einen Gegenstand (Analplug) in die Scheide seiner Sexualpartnerin eingeführt und ihr schmerzhafte, erheblich blutende Verletzungen im Genitalbereich zugefügt hatte. Um ihre lauten Schmerzschreie zu dämpfen, hatte er den Feststellungen zufolge ihren Kopf mit einer Hand in eine auf dem Boden liegende Decke gedrückt und ihr dadurch die Atemwege versperrt, sodass sie verstarb. Nachdem die Getötete weder eindeutige Zeichen äußerer Gewalt noch Abwehrverletzungen aufwies und im Atmungssystem keinerlei Faserspuren aufgefunden worden waren, hob der BGH das Urteil u.a. mit der Maßgabe auf, der vom Revisionsführer unter Vorlage mehrerer gutachtlicher Äußerungen herausgestellten Möglichkeit nachzugehen, dass das „Opfer“ nicht an einer Erstickung, sondern an einer durch die Verletzungen im Genitalbereich verursachten Luftembolie verstorben sei[9].
2. Hypothetische Alternativursachen
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Andererseits hat der BGH[10] eine mit fehlender Kausalität begründete Nichtverurteilung wegen eines Tötungsdelikts zum Nachteil eines schwer herzkranken Gewaltopfers „gekippt“, das durch Schläge und Tritte nur Prellungen und Hautabschürfungen davongetragen hatte, aber noch am Tatort an Herzversagen gestorben war. Es lag vom medizinischen Standpunkt aus zwar nahe, dass Aufregung den Todeseintritt beschleunigt hatte, es war aber nach Feststellung des medizinischen Sachverständigen auch ohne jede Erregung jederzeit mit dem Ableben zu rechnen. Unter Anwendung der sine-qua-non-Formel schien bei dieser Ausgangslage nur der Schuldspruch wegen eines Körperverletzungsdelikts möglich bzw. der fiktive Freispruch in Bezug auf ein Tötungsdelikt eigentlich unausweichlich.
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Der BGH beanstandete jedoch, das SchwurG habe die Anforderungen überspannt, die an den Nachweis der Kausalität zwischen Körperverletzungshandlung und Todeseintritt zu stellen seien. Ein bestimmter Ursachenzusammenhang wegen mehrerer denkbarer Ursachen könne medizinisch-naturwissenschaftlich möglicherweise nicht positiv festgestellt, aber gleichwohl vom Tatrichter angenommen werden. Denn dessen Überzeugung dürfe sich nicht auf rein theoretische Möglichkeiten gründen. Vielmehr sei Voraussetzung dafür, dass sich der Tatrichter vom Vorliegen eines bestimmten Sachverhalts