Verteidigung in Mord- und Totschlagsverfahren. Steffen Stern
– erstrebte, als sicher vorausgesehene oder in Kauf genommene – und verwirklichte Selbsttötungen oder Selbstverletzungen[8] unterfallen deshalb nicht dem Tatbestand eines Tötungs- oder Körperverletzungsdelikts. Unsere Rechtsordnung wertet eine Selbsttötung – von äußersten Ausnahmefällen abgesehen – zwar als rechtswidrig[9], stellt die versuchte Selbsttötung jedoch straflos[10]. Scheitert der Selbstmordversuch, ist der Suizident strafbar, soweit er im Zuge der Selbstmordhandlung und seiner Vorbereitung Strafgesetze verletzt hat, insbesondere dadurch, dass er Menschen gefährdet oder zu Schaden gebracht hat[11]. Zu denken ist etwa an gescheiterte Mitnahmesuizide, Amokläufe oder Amokfahrten oder gemeingefährliche Suizidversuche mittels Gasexplosion.
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Auch die strafbare Teilnahme an einem gegen sich selbst gerichteten Tötungsdelikt scheidet nach diesen Grundsätzen aus. Wer einen einvernehmlichen Doppelselbstmord überlebt, kann folglich nicht wegen Anstiftung des Partners oder wegen Beihilfe zum Totschlag oder zur Tötung auf Verlangen bestraft werden.
a) Der Gedanke der eigenverantwortlichen Risikoübernahme
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Da eigenverantwortlich gewollte – erstrebte, als sicher vorausgesehene oder in Kauf genommene – und verwirklichte Selbsttötungen oder Selbstverletzungen nicht dem Tatbestand eines Tötungs- oder Körperverletzungsdelikts unterfallen, nimmt derjenige, der sehenden Auges daran mitwirkt, an einer Handlung teil, die – soweit es um die Strafbarkeit wegen eines solchen Delikts geht – keine Tat im Sinne der §§ 25, 26 oder 27 Abs. 1 StGB darstellt. Infolgedessen ist trotz womöglich kausalen Handlungsbeitrags (wegen Fehlens einer Haupttat) der sich vorsätzlich Beteiligende, der lediglich eine eigenverantwortlich gewollte und verwirklichte Selbsttötung oder Selbstverletzung veranlasst, ermöglicht oder fördert, i.d.R. nicht als Anstifter oder Gehilfe an einem Körperverletzungs- oder Tötungsdelikt strafbar[12].
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Nach denselben Grundsätzen bleibt auch derjenige mangels Haupttat straffrei, der lediglich die eigenverantwortlich gewollte und bewirkte Selbstgefährdung eines anderen veranlasst, ermöglicht oder fördert, wenn der andere die den Verletzungs- oder Todeserfolg verursachende schädigende Handlung selbst vornimmt und sich das von diesem bewusst eingegangene Risiko verwirklicht[13]. Das gilt auch für den Fall der Abgabe von Heroin[14].
b) Abgrenzung zur strafbaren Fremdschädigung
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Grundsätzlich ist zwischen der – generell straflosen – Beteiligung an einer eigenverantwortlichen Selbstschädigung oder Selbstgefährdung und der – grundsätzlich strafbaren – Fremdschädigung eines anderen zu unterscheiden. Maßgebliches Abgrenzungskriterium ist die Tatherrschaft.
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Die eigenhändige Vornahme einer zum Tode führenden Handlung, die Tatherrschaft begründet, steht der Annahme bloßer (strafloser) Förderung einer Selbstgefährdung oder einer straflosen Teilnahme am Suizid entgegen[15]. Liegt die Tatherrschaft über die Gefährdungs- bzw. Schädigungshandlung nicht allein beim Gefährdeten bzw. Geschädigten, sondern zumindest partiell auch bei dem sich hieran Beteiligenden, liegt eine eigene Tat des „Teilnehmers“ vor, sodass dieser nicht aus Gründen der Akzessorietät mangels einer Haupttat des Geschädigten straffrei ausgeht[16]. So kann selbst die Beteiligung am „an sich“ straflosen Suizid zur Strafbarkeit des Beteiligten führen, wenn er das tödliche Geschehen beherrscht und/oder den sich selbst Tötenden als sein Werkzeug gegen sich selbst richtet[17]. Das Problem der eigenverantwortlichen Selbsttötung hat in der Diskussion um den sog. „Assistierten Suizid“[18] und die Grenzziehung zwischen strafloser Sterbehilfe[19] und gem. § 216 StGB strafbarer Fremdtötung auf Verlangen[20] große Aktualität erlangt. Es spielt auch im Bereich der Körperverletzung mit Todesfolge gem. § 227 StGB[21] eine nicht unbedeutende Rolle.
Grobe Hinweise, die auf Mord oder Selbstmord hindeuten, sind den nachfolgenden Übersichtstafeln zu entnehmen.
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Unnatürlicher Tod I | |
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I. Erhängen | |
Indizien für Selbstmord | Indizien für vorgetäuschten Selbstmord |
• Ansteigen der Strangulationsfurche gegen die Schlaufe oder zum Knoten • weder der Fundort selbst noch die Kleidung oder etwaige Verletzungen bieten Anhaltspunkte für eine Gegenwehr • Vorhandensein und Erreichbarkeit von Behelfsmöglichkeiten zur Anbringung des Aufhängewerkzeugs (Leiter, Tisch, Stuhl, Fensterbank, Truhe) • echter Abschiedsbrief • vertikale Speichelabrinnspur | • zweite Strangfurche • Kampfspuren am Fundort (umgeworfene Vasen und Lampen etc.) • Verletzungen (Unterblutungen) • abgebrochene Fingernägel • Injektionsstellen • Kleidungsdefekte • frei hängende Leiche ohne erreichbare Behelfsmöglichkeiten zur Anbringung des Aufhängewerkzeugs |
II. Erdrosseln | |
Indizien für Selbstmord | Indizien für Mord |
• um den Hals liegendes, mit einem Gegenstand zugedrehtes Drosselwerkzeug, das sich auch bei Verlust der Besinnung nicht eigenständig lockern oder lösen konnte • Leichenfundort aufgeräumt und unauffällig • Kleidung geordnet und intakt • keine Verletzungen an Händen oder Armen • plausibles Selbstmordmotiv | • Schürf- oder Würgespuren am Hals • zweite Strangfurche • fest verknotetes Drosselwerkzeug • Kampfspuren am Fundort (umgeworfene Vasen und Lampen etc.) • Abwehrverletzungen • Kleidungsdefekte • fehlender Nachlass |
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Unnatürlicher Tod II | |
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III. Scharfe Gewalt (Stich, Schnitt und Hieb) | |
Indizien für Selbstmord | Indizien für vorgetäuschten Selbstmord |
• Lage der Schnitte oder Stiche in vom Menschen selbst gut erreichbaren Körperregionen mit lebenswichtigen Blutgefäßen (Herz) • Einstichstelle auf entblößter Haut • Probierschnitte oder -stiche • Parallelschnitte (Pulsaderschnitte) • Fehlen typischer Abwehrverletzungen • geringe Schnitt-Tiefe • blutige Stich- oder Schnitthand des Toten • Blutabrinnspur vertikal • Abschiedsbrief • plausibles Selbsttötungsmotiv |