Verteidigung in Vollstreckung und Vollzug. Bernd Volckart
Abschluss bildet das Kapitel über formell- und materiell-rechtliche Besonderheiten bei der Vollstreckung jugendstrafrechtlicher Sanktionen, genauer: bei der Verteidigung von noch auf freiem Fuß befindlichen Mandanten, denen die Vollstreckung solcher Sanktionen droht, wobei an zahlreichen Stellen auf die vorherigen Kapitel verwiesen wird.
Anmerkungen
Ausf. Pollähne 2011, 73 ff.
Teil 2 Vollstreckung II Mandant ist in Freiheit › II. Kriminalprognose
II. Kriminalprognose
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Die öffentliche Debatte über sog. „Bewährungsversager“ und schwere Rückfälle von Straftätern hat kriminalpolitische Rahmenbedingungen geschaffen, die vorzeitige Entlassungen und Lockerungen erschweren. Das Klima ist von Dämonisierung und Skandalisierung geprägt.[1] Das Ansehen des Straftäters als „Bestie“, „Monster“ o.Ä. verhindert eine fachgerechte soziale Integration. Wird die Entlassung mit dauerhafter polizeilicher Observation verbunden, erscheint die vermeintliche Gefährlichkeit des Entlassenen in der öffentlichen Meinung noch bestätigt.[2] Zunehmend wird das Bedürfnis nach vollkommener Sicherheit geäußert. Die reale oder vermeintliche Kriminalitätsfurcht der Bürger und das Bild der tatsächlichen Kriminalität klaffen z.T. erheblich auseinander: Gewalt- und Sexualdelikte sind rückläufig und trotzdem steigt die Zahl der Anordnungen von Sicherungsverwahrung. Ursachen für die Fehleinschätzung werden auch bei den Medien gesucht. Tondorf[3] fordert die am Strafverfahren Beteiligten auf, das geschilderte gesellschaftliche Klima gelassen zu registrieren und sich gegen überspannte Sicherheitsansprüche resistent zu zeigen; an einem richtungsweisenden „Gegenprogramm“ sollte gemeinsam gearbeitet werden.
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Die Kriminalprognose ist ein aussichtsreiches Feld für eine erfolgreiche Verteidigung, wenn man sich den gewachsenen Ansprüchen und Diskussionsansätzen stellt. Nicht nur sind die wissenschaftlichen Anforderungen an die Inhalte, die fachlichen Standards und die empirische Validität eines Gutachtens fortwährend gestiegen, auch die Anforderungen an die Person des Sachverständigen selbst, seine berufliche Ausrichtung (Psychiater oder Psychologe), seine Berufserfahrung als Forensiker[4] sowie seine praktische Erfahrung als Gutachter haben erheblich an Bedeutung gewonnen. Oftmals kann über die Auswahl des „richtigen“ Sachverständigen eine Prognoseentscheidung und damit der Ausgang des Verfahrens vorgezeichnet sein. Boetticher u.a.[5] haben in einer Expertenkommission aus Richtern, forensischen Psychiatern und Psychologen, Sexualmedizinern, weiteren Wissenschaftlern und Juristen Mindestanforderungen für Gutachten zusammengestellt. Aber bereits die systematische Auflistung stößt auf Kritik; unterschiedliche Praxiskonventionen und Konzeptionen von nicht an der Empfehlung beteiligten Experten können eine ganz andere Vorgehensweise empfehlen. So ist die fast ausschließliche Präsenz der Psychiater als forensische Sachverständige in Frage zu stellen; denn auch Kriminologen[6] und Psychologen kommen als Gutachter in Betracht. Aber bereits zwischen Juristen und Psychiatern gibt es Verständnisschwierigkeiten.[7] Auch zahlenmäßig sind die Anforderungen an Gutachten seit dem SexualdelBekG gestiegen; aufgrund des kriminalpolitischen Hintergrundes sollen bei Prognoseentscheidungen der Gerichte und Vollzugsbehörden Sachverständige hinzugezogen werden[8] (§§ 454 StPO, 57, 67d StGB, 88 JGG). Alle Entscheidungen erfordern ein hohes Maß an Verantwortung und Sachverstand – von Gerichten und Sachverständigen gleichermaßen. An die Ausbildung und Fortbildung sind angesichts der weitreichenden Folgen einer Entscheidung – auch für die Allgemeinheit, vor allem aber für die Mandanten – hohe Ansprüche zu stellen. Das BVerfG hat die Maßstäbe für die Überprüfung von Prognoseentscheidungen weiter konkretisiert.[9]
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Die Prognosestellung ist ein sehr komplexer Vorgang. Volckart hatte dies in den Vorauflagen in einem Exkurs eindrücklich dargestellt.[10] Die Ebenen des Entscheidungsvorganges sind klar zwischen dem (klinischen) Erfahrungswissen des Sachverständigen[11] und der gerichtlichen Prognose zu trennen. Die Entscheidung, ob die mit Hilfe des Gutachters ermittelte Wahrscheinlichkeit eines Rückfalls eine Entlassung rechtfertigt, trifft der Richter. Geprägt durch öffentliche Meinung und Kriminalpolitik wird zwischen ungünstigen und günstigen Prognosen entschieden,[12] der Umschlagspunkt variiert entsprechend der politischen Diskussion. Soll den Sicherheitsbedürfnissen der Bevölkerung verstärkt Rechnung getragen werden, erhöht sich die Messlatte und es verbleiben im Zweifel mehr Gefangene länger im Strafvollzug.[13]
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Die Gesamtwürdigung von Tat, Persönlichkeit und ihrer Entwicklung während des Vollzuges ist Grundlage der Prognose. Eine Abwägung zwischen den Auswirkungen des Freiheitsentzuges und den Sicherheitsinteressen der Allgemeinheit muss getroffen werden. Welche Tatsachen als erheblich in die Prognosestellung einbezogen werden, richtet sich auch nach dem Beweisrecht der StPO. Ein prozessual zulässiges Verteidigungsverhalten des Angeklagten darf bei einer Prognoseentscheidung nicht zu seinem Nachteil gewertet werden.[14] Auch in der Exploration durch den Sachverständigen hat der Verurteilte das Recht, zu schweigen. Tatsachen, die sich bei der Prognose als ungünstig auswirken, müssen feststehen. Frühere Verurteilungen müssen sicher sein; die Verteidigung sollte positive Veränderungen herausarbeiten.[15]
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Wichtige Fehlerquelle bei der Kriminalprognose ist die Überbetonung der deliktischen Vergangenheit des Verurteilten oder frühen Versagens in beruflicher bzw. schulischer Bildung. Die mangelnde Auseinandersetzung mit der Tat wird überbewertet und verhindert so oft eine günstige Prognose. Dabei sind die Vollzugsanstalten mit der Bearbeitung selbst häufig überfordert; den Beamten und Therapeuten fehlen oft Zeit und fachliche Voraussetzungen für eine sachgerechte Deliktsbearbeitung.[16]
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Bei der Kriminalprognose wird neben der klinischen Methode auch auf statistische Prognoseinstrumente zurückgegriffen. Die klinische Prognose wird von Psychiatern und Psychologen gestellt, die entsprechend spezielle, auch kriminologische Erfahrungen mitbringen sollten. Die statistischen Prognoseverfahren nutzen Checklisten und beruhen auf der Annahme, dass die Wahrscheinlichkeit künftiger Straftaten umso größer ist, je mehr statistisch-kriminogene Merkmale einer Person zuzuschreiben sind. Das Individuum wird einer Gruppe zugeordnet, deren Rückfallquote bereits bekannt ist, die dann als individuelle Rückfallwahrscheinlichkeit interpretiert wird.[17]
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Die im angloamerikanischen Raum vorrangig angewandten Prognoseinstrumente sind die Psychopathie-Checkliste PCL-R von Hare[18], der HCR-20[19] zur Vorhersage von Gewalttaten und der SVR-20 zur Vorhersage von Gewalttaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung. Die Anwendungen sind sehr verbreitet, aber auch umstritten: die PCL-R repräsentiere einen neuen Biologismus.[20] Die verstärkt vergangenheitsbetonten und statischen Merkmale bieten kaum Spielraum für die Notierung von positiven Veränderungen. Der Straftäter bleibt Gefangener seiner Vergangenheit. Kritisiert wird aus den Kriminalrechtswissenschaften[21] auch die Zuverlässigkeit (Reliabilität) und Gültigkeit (Validität) der statistischen Verfahren.
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Das Gericht hat die Prognoseentscheidung selbst zu treffen, auch wenn es sich von einem Sachverständigen beraten lässt. Es darf die Entscheidung nicht an diesen abtreten, sondern hat seine Ausführungen zu kontrollieren.[22] Oder um es mit den Worten des BGH zu sagen: „Der Richter hat seine Entscheidung selbst zu erarbeiten und zu durchdenken.[23] Es ist die Aufgabe der Verteidigung, dafür zu sorgen, dass das angemessen geschieht.“[24]
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Psychowissenschaftliche