Absprachen im Strafprozess. Dirk Sauer
zunächst einmal nur, dass dann, wenn eine Urteilsabsprache durchgeführt, ein Strafbefehl vorbesprochen oder eine Lösung etwa über eine Einstellung unter Auflagen gesucht wird, jedenfalls der Rahmen, der nach dem Gesetz besteht, nicht verlassen werden darf. Wählen die Verfahrensbeteiligten eine konsensuale Vorgehensweise, die mit dem geltenden Recht nicht vereinbar ist, so verhalten sich alle Beteiligten, auch der Verteidiger, pflichtwidrig. Sogar die Bejahung strafbaren Verhaltens liegt insbesondere in Fällen unzulässiger Inhalte der Vereinbarungen näher als man auf den ersten Blick meinen könnte. Wer beispielsweise mandatsübergreifend „dealt“, schon in der Instanz Vollstreckungserleichterungen oder Strafaussetzungen zur Bewährung nach § 57 StGB aushandelt oder zumindest anstrebt, wer wegen des Verdachts auf Begehung von Verbrechen geführte Verfahren nach § 153a einstellt, ohne dass sich der Verbrechensverdacht zuvor als unbegründet erwiesen hat, oder wer sonst zu weit jenseits des Vertretbaren liegenden Ergebnissen kommt, kann sich zumindest gefährlich in die Nähe von Straftatbeständen wie Rechtsbeugung, § 339 StGB, Strafvereitelung, §§ 258, 258a StGB (ggf. i. V. m. §§ 26, 27 StGB) und anderem begeben.[43] Zudem besteht jedenfalls in Fällen des Scheiterns rechtswidriger „Deals“ durchweg das erhebliche Risiko, dass die Revisionsinstanz etwa einer Urteilsabsprache die Anerkennung versagt und der Mandant durch den gesamten Vorgang im Ergebnis massive Nachteile erleidet. Auf letzteres wird später noch ausführlich zurückzukommen sein.[44]
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Eine strikt pragmatische[45] Einstellung könnte für den Strafverteidiger folglich darauf hinauslaufen, in jedem Verfahren und in jeder denkbaren Hinsicht die bestehenden rechtlichen und tatsächlichen Möglichkeiten, soweit sie im Interesse des Mandanten stehen, voll auszuschöpfen.[46] Dies entspräche der These, dass sich den handelnden Personen für die Urteilsabsprache – ebenso wie für strafprozessuale Verständigungen anderer Art und in anderen Verfahrensstadien – vor dem Hintergrund von mehr als zwei Jahrzehnten die Zulässigkeit der Urteilsabsprache bejahenden höchstrichterlicher Rechtsprechung und der nunmehr bestehenden gesetzlichen Anerkennung im Grunde nicht mehr die Frage nach dem Ob, sondern nur noch nach dem Wann und dem Wie stellt.[47]
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Mit einem gewissen Recht kann man für diese Haltung darauf verweisen, dass Strafverteidiger bis zu einem bestimmten Grade zum Pragmatismus verpflichtet sind. Es ist schon im Hinblick auf die geschuldete Einschätzung und Optimierung der Prozessaussichten wie auch die umfassende und zutreffende Unterrichtung des Mandanten über seine jeweilige Situation schlicht ein Gebot praktischer Vernunft, die vom Gesetzgeber anerkannte Urteilsabsprache nicht von vornherein zu ignorieren. Dabei versteht sich zwar von selbst, dass der Verteidiger niemals Dinge tun muss, die er mit seinen rechtlichen, moralischen, ethischen, oder welchen Überzeugungen auch immer nicht vereinbaren kann. Dies berechtigt ihn aber nicht, seinem Mandanten zu schaden. Vielmehr wird er notfalls gezwungen sein, das Mandatsverhältnis zu beenden, wenn er eine von ihm als rechtmäßig und für den Mandanten vorteilhaft erkannte konsensuale Verfahrensweise nicht durchführen möchte.[48] Gerade deswegen besteht eine nahe liegende und von vielen Strafverteidigern heute auch tatsächlich ausdrücklich oder konkludent gezogene Schlussfolgerung darin, das eigene Handeln schlicht am Gesetz und den Grundsätzen der Rechtsprechung auszurichten.
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Verteidiger, die das nicht befriedigt, die insbesondere nicht lediglich „Checklisten“[49] möglicher „Verhandlungsgegenstände“ abarbeiten wollen, sondern die auch in verbleibenden Grenz- und Problemfällen auf die Frage: „Was soll ich tun?“ eine Antwort geben wollen, deren rechtliche Begründung zumindest ihnen selbst als vertretbar erscheint, profitieren aber nach wie vor davon, wenn sie über eine eigene Position zu konsensualen Vorgehensweisen im Allgemeinen und den Urteilsabsprachen im Besonderen verfügen und diese im Kontext der bereits skizzierten mutmaßlichen Ursachen sehen. In der Tat ist zwar evident, dass der Verteidiger nicht einfach seine persönlichen Überzeugungen über die Interessen des Mandanten stellen und auch da zum alleinigen Maßstab für die rechtliche Beurteilung erheben darf, wo sie etwa der höchstrichterlichen Rechtsprechung eindeutig entgegenstehen. Das heißt aber nicht, dass er als selbstständig agierendes Organ der Rechtspflege nicht auch gefordert ist, die Grundsatzkritik an Urteilsabsprachen zumindest zur Kenntnis zu nehmen und sich Rechenschaft über sein prozessuales Verhalten abzulegen. So sind nicht sämtliche Rechtsprobleme, die im Zusammenhang mit der Urteilsabsprache auftreten können, bereits durch die gesetzliche Regelung und die Rechtsprechung erschöpfend geklärt. Zuweilen steht der Verteidiger deswegen vor der Frage, ob und inwieweit er gemeinsam mit den anderen Verfahrensbeteiligten selbst an der Fortbildung des Rechts mitwirken kann und soll. Hier hilft schlichter Gehorsam nicht weiter: Nur wer sich auf dem Boden eines bewusst reflektierten, eigenen Standpunkts bewegt, ist in der Lage, verantwortlich zu entscheiden, inwieweit er gewillt ist, sich auf nicht gesicherter Grundlage an Verständigungen zu beteiligen und wo die Grenzen zu ziehen sind und dies im Übrigen auch dem Mandanten zu vermitteln. Ohnehin können die Akteure nicht jede Verantwortung für ihr Handeln an höhere Autoritäten delegieren: Rechtsanwendung ist immer zugleich auch ein Prozess der Rechtsschöpfung. Schließlich wäre die radikal pragmatische Sichtweise nur völlig überzeugend, wenn der Verteidiger ausschließlich Interessenvertreter wäre, was er aber eben nicht ist.
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Nach der hier vertretenen Auffassung ist der seit langen Jahren andauernde Streit über die grundsätzliche Zulässigkeit von „Absprachen im Strafprozess“, verstanden als rechtsdogmatische Auseinandersetzung, zwar mittlerweile gegenstandlos (wenn er es nicht ohnehin schon immer war). Das, was von Richtern, Staatsanwälten und Verteidigern, die sich an das geltende Recht halten, praktiziert wird, erfordert gleichwohl hohen Sachverstand und kann im Einzelfall Aufgaben von außerordentlicher Komplexität mit sich bringen. In der praktischen Bedeutung mutmaßlich gleichbedeutend neben der Urteilsabsprache stehen dabei im Übrigen Verfahrenseinstellungen nach §§ 153 ff. und Strafbefehle nach §§ 407 ff.[50]
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Was in der Literatur aber nach wie vor heftig kritisiert wird, ist zumeist auch kein rechtliches, sondern ein rechtskulturelles Phänomen, zugespitzt: Die Verrohung der Sitten. Diese hat gesellschaftliche wie politische Ursachen und ist daher nicht gut im Wege von Veröffentlichungen in strafrechtlichen Fachpublikationen, sondern durch gesellschaftliches und politisches Engagement am effektivsten zu bekämpfen. Dass kein Praktiker sich an nach geltendem Recht unzulässigen Verfahrensweisen beteiligen darf, auch nicht der Verteidiger und auch dann nicht, wenn das Bestehen auf der Befolgung aller Normen des Strafprozessrechts in der Ausprägung, die sie in der Rechtsprechung des BGH erfahren haben, in der konkreten Verfahrenssituation Mut und Beharrungsvermögen erfordert, liegt allerdings auch auf der Hand. Anlass, Gespräche mit anderen Verfahrensbeteiligten bis hin zu einvernehmlichen Verfahrensbeendigungen generell nur mit schlechtem Gewissen zu führen, besteht aber nicht.
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Die Wirklichkeit der Absprachen im Strafprozess ist gleichwohl alles andere als erfreulich. Jeder Rechtsanwalt, der eine Zeit lang als Verteidiger tätig war, kennt glaubhafte Berichte von in der Hauptverhandlung genuschelten, völlig inhaltsleeren Geständnissen, mandatsübergreifenden „Deals“, Versuchen der Gerichte, Geständnisse aus den Mandanten geradezu herauszupressen, Anläufen, schon in der Instanz den Zeitpunkt der Entlassung aus der JVA auszuhandeln und nicht zuletzt der offenbar nicht auszurottenden Unsitte, mehr oder weniger stillschweigend und augenzwinkernd von der Verteidigung und auch von der Staatsanwaltschaft doch wieder eine Selbstverpflichtung zum Rechtsmittelverzicht zu verlangen.[51] Dies alles ist unzulässig, und wer sich auf so etwas einlässt, zieht sich mit Recht geballte Kritik zu. Die Verteidiger haben es durch die Art und Weise, wie sie sich verhalten, ob also insbesondere der noch im dritten Teil näher darzulegende rechtliche Rahmen für Verständigungen im Strafprozess eingehalten wird oder nicht, bis zum gewissen Grade in der Hand, das heute aus der Außenperspektive allem Anschein nach verheerende Image der Absprachenpraxis zu verbessern. Nicht obwohl, sondern gerade weil die revisionsgerichtliche Kontrolle auf pathologische Fälle beschränkt ist und zumeist der Satz gilt: „Wo kein Kläger, da kein Richter“, hängt die Funktionsfähigkeit des Rechtssystems und auch das Niveau der Rechtskultur hier in besonderer Weise davon ab, dass