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ihm anvertraute Rechtsgut, die Unversehrtheit der Gesundheit seiner Patienten“.[240] Zu achten ist gleichwohl darauf, dass das Übernahmeverschulden nicht zu einer Art Lebensführungsschuld werden darf. Ausreichend, aber auch erforderlich ist, dass die Tätigkeit selbst, zu welcher der Handelnde sich anschickt, bereits hinreichenden Anlass bietet, die eigenen Fähigkeiten und Kenntnisse zu hinterfragen.[241]
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Voraussetzung für den Schuldvorwurf ist, dass der Arzt seinen Mangel an Kenntnissen und Fertigkeiten „weiß oder erkennen kann, wobei das Verschulden sowohl in der Übernahme als auch in der Fortführung einer die Fähigkeit des Handelnden übersteigenden Tätigkeit“ begründet liegt.[242] „Wer an die Grenzen seines Fachbereichs oder seiner persönlichen Einsatzbereitschaft gelangt, hat andere zuzuziehen oder seine weitere Aktivität zu unterlassen bzw. einzuschränken“.[243] Der Arzt, der selbst „nicht über die nötigen persönlichen und fachlichen Fähigkeiten verfügt, muss sich sachkundiger Hilfe vergewissern,“[244] also die Überweisung des Patienten zu einem „kundigeren Kollegen,“[245] einem Facharzt oder gar Spezialisten bzw. in ein mit besonderen Einrichtungen ausgestattetes Krankenhaus veranlassen oder einen Konsiliarius hinzuziehen, um die sachgerechte Versorgung des Patienten zu gewährleisten. Wer als Arzt bei der Behandlung eines Patienten „an die Grenzen seiner therapeutischen Möglichkeiten stößt, muss dafür Sorge tragen, dass die Behandlung von einem fachlich dazu geeigneten Arzt übernommen wird“.[246] Denn eine Tätigkeit, „deren ordnungsgemäße Erfüllung“ er „nicht garantieren kann,“[247] darf ein gewissenhafter Arzt nicht aufnehmen oder weiterführen, es sei denn, es handelt sich um Ausnahmesituationen oder Notfälle, in denen auch der Arzt gefordert ist und helfen muss, dessen Fähigkeiten und Möglichkeiten nach eigener Einschätzung nicht ausreichen.
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In der Überschätzung der eigenen Möglichkeiten und Qualifikation, dem Mangel an Selbstkritik und eigenem Beurteilungsvermögen liegt eindeutig ein ärztliches Fehlverhalten, wie die Judikatur immer wieder betont hat.[248] „Medizinische Kunst“ setzt „nicht nur ein sehr großes, ständig zu erweiterndes Wissen, sondern auch die Gabe der Intuition und vor allem Erfahrung“ voraus, die man nur „in und während einer verantwortlichen Berufsausübung selbst“ gewinnen kann.[249] Während dieses Entwicklungsprozesses wird deshalb „nur derjenige Arzt Fehler vermeiden, der die Grenzen seines Wissens und Könnens sehr genau kennt und ständig mit Gewissenhaftigkeit Kritik an sich selbst übt“.[250]
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Beispiel:
Der Angeklagte, der sich noch in der Ausbildung zum Facharzt für Gynäkologie befand, wurde während seines Bereitschaftsdienstes mit der Leitung der Geburt der Frau B. betraut. Dabei traten nach 17.05 Uhr auf dem CTG (Kardiotokogramm) vereinzelt Zeichen eines Herzfrequenzmusters vom Typ „Dip II“ auf. Als sich gegen 19.05 Uhr das CTG schlagartig verschlechterte, versuchte er zunächst mittels Saugglocke und anschließend mit Hilfe der Geburtszange, das Kind zur Welt zu bringen, jedoch scheiterten alle drei Versuche. Erst dem inzwischen herbeigerufenen Oberarzt gelang es, das Kind zu holen. Dieses litt an einem schweren Erstickungszustand, infolgedessen es irreversibel hirngeschädigt ist und mit schwersten Behinderungen ein dauernder Pflegefall bleiben wird[251].
Dazu führte der BGH aus:
„Die Frage, ob der Angeklagte nach seinen damaligen Kenntnissen und Fähigkeiten das CTG richtig deuten und einen drohenden Schaden einwandfrei diagnostizieren konnte, schöpft die rechtliche Problematik nicht aus. Es ist vielmehr anerkannt, dass auch derjenige schuldhaft handeln kann, der eine Tätigkeit vornimmt, von der er weiß oder erkennen kann, dass ihm die dafür erforderlichen Kenntnisse fehlen“.
Konkret kommt es also zunächst darauf an, ob ein gewissenhafter Arzt in der Situation des Angeklagten aus dem Verlauf der CTG-Kurven Normabweichungen und damit eine Notsituation des Kindes hätte erkennen können. Ist dies zu verneinen, kommt die Verletzung der objektiven Sorgfaltspflicht nicht in Betracht. Liegt der Grund für die Nichterkennung des drohenden Schadens dagegen im Ausbildungsstand, der Schwierigkeit des Falles oder der arbeitsmäßigen Beanspruchung an dem fraglichen Tag, so schließt dies die Annahme einer Pflichtwidrigkeit des Arztes nicht aus. Denn „wenn er nicht in der Lage war, das Kardiotokogramm richtig zu deuten und die aufgetretenen Herzfrequenzveränderungen als bedrohlich zu erkennen, hätte er die alleinige ärztliche Betreuung der Geburt nicht übernehmen dürfen“.[252]
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Weitere Beispiele:
1. | Übernimmt ein Assistenzarzt im konkreten Fall als Nichtfacharzt die Aufsicht und Kontrolle über die Operation eines Berufsanfängers, so ist ihm daraus ein Vorwurf zu machen, „wenn er sich etwa von sich aus zu dieser Tätigkeit gedrängt oder wenn er sich weisungsgemäß darauf eingelassen hat, obwohl er nach den bei ihm vorauszusetzenden Kenntnissen und Erfahrungen dagegen Bedenken äußern und die Gefährdung der Patientin hätte voraussehen können“.[253] |
2. | Erkennt der in der Ausbildung befindliche Assistenzarzt oder hätte er erkennen müssen, dass der Patient bei der von ihm eigenverantwortlich durchgeführten Operation (Lymphknotenexstirpation) einem höheren Gesundheitsrisiko ausgesetzt ist, darf er nicht gegen sein ärztliches Wissen und gegen seine bessere Überzeugung handeln und die Anweisungen des übergeordneten Facharztes befolgen. Ihm ist zuzumuten, dagegen seine Bedenken zu äußern und notfalls eine Operation ohne Aufsicht abzulehnen. Das muss auch dann gelten, wenn er sich dadurch beruflichen Schwierigkeiten aussetzen sollte. Erst recht kann ein verständlicher Drang des Anfängers zur selbständigen Erprobung seiner Fähigkeiten das Übernahmeverschulden nicht ausschließen.[254] Auch ein junger Arzt muss auf Grund seiner ärztlichen Verantwortung einen derartigen Konflikt zwischen seinen eigenen beruflichen Interessen und der Sorge um die Gesundheit und das Leben des Patienten von Rechts wegen zu dessen Gunsten entscheiden.[255] |
3. | Wenn ein Chirurg ohne spezielle Kenntnisse und Erfahrungen in der Notfalltherapie die Doppelverantwortung für einen – jederzeit aufschiebbaren – operativen Eingriff und die Narkose übernimmt und dann versehentlich einen tödlichen Anästhesiezwischenfall auslöst, den ein erfahrener Anästhesist gemeistert hätte, ist er wegen fahrlässiger Tötung strafbar.[256] |
4. | Der auf einem Auge fast völlig erblindete Chirurg verletzt unter dem Aspekt des Übernahmeverschuldens seine ärztliche Sorgfaltspflicht, wenn er in Kenntnis seiner Sehbehinderung und mangelnden Übung dennoch eine Gallenblasenoperation durchführt und dabei wegen der genannten Mängel den Darm verletzt. Denn „bei sorgfältiger und selbstkritischer Prüfung“ hätte er erkennen müssen, „dass ihm die Voraussetzungen“ für die Vornahme solcher Eingriffe fehlen.[257] |
5. | Ein Gynäkologe nimmt in seiner Praxis eine medizinisch indizierte Gebärmutterausschabung unter Sedierung mit Propofol vor, ohne dass ein Anästhesist, wie in der Gebrauchsinformation des Herstellers vorgeschrieben, kurzfristig zur Verfügung steht, ferner ohne die notwendigen Überwachungsapparaturen und eine Notfallausrüstung. Bei dem Eingriff kam es zu einem Atemstillstand, der zu einem hypoxischen Hirnschaden und dann zum Tode der Patientin führte. Der Gynäkologe wurde in erster Instanz zu einer Freiheitsstrafe von 20 Monaten ohne Bewährung verurteilt. Die Strafmaßberufung hatte Erfolg, so dass die verhängte Strafe zur Bewährung ausgesetzt wurde.[258] |
k) Die ärztliche Fortbildungspflicht
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