Arztstrafrecht in der Praxis. Klaus Ulsenheimer
anleitet und beaufsichtigt,[177] da diese Überwachung eine besondere Kompetenz, Souveränität und Verantwortung erfordert.[178] Ansonsten aber kann der fachärztliche Standard auch „ohne die ständige persönliche Anwesenheit eines Facharztes“ gewährleistet werden, wenn der Operateur für den konkreten Eingriff das notwendige theoretische Wissen besitzt und in der Lage ist, die erforderlichen operationstechnischen Kenntnisse in die Praxis umzusetzen.[179] Operiert also der noch in der Ausbildung befindliche Arzt selbst, kommt es auf seine materielle Qualifikation an, d.h. über die Frage, ob er zur selbstständigen Durchführung des Eingriffs berechtigt ist, entscheidet sein jeweiliger konkreter Ausbildungsstand und die Schwierigkeit der anstehenden Operation.[180]
cc) Haftung des Berufsanfängers
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Die mit der Ausbildung junger Ärzte naturgemäß verbundenen höheren Verletzungsgefahren müssen, soweit beherrschbar, von den für den Einsatz dieser Ärzte Verantwortlichen durch besondere Maßnahmen ausgeglichen werden, damit gegenüber dem Patienten im Ergebnis stets der Standard eines Facharztes gewahrt bleibt und kein zusätzliches Risiko entsteht.[181] Ob das allerdings erreichbar ist, erscheint fraglich. Denn „selbst ein assistierender Facharzt“ kann nicht „jeden „anfängerbedingten“ Fehler des Operateurs verhindern oder die möglicherweise erheblichen Folgen für den Patienten, auch wenn er den Fehler sofort erkennt, in jedem Falle beheben“.[182] Deshalb muss auch von einem Assistenzarzt, selbst wenn er sich noch am Beginn seiner Weiterbildung befindet, die Einhaltung elementarer Regeln seines Fachs verlangt werden, z.B. Vergewisserung über die anatomischen Verhältnisse, „eindeutige Identifizierung der betroffenen Strukturen, Rückfrage beim anwesenden Oberarzt bei Ungewissheit“ oder „sogar Abgabe der Operationsdurchführung“.[183]
dd) Einsatz des Berufsanfängers
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Allgemein dürfen dem Assistenzarzt in Weiterbildung nur solche Aufgaben zur eigenverantwortlichen und selbstständigen Erledigung übertragen werden, die er nach dem Stand seiner Kenntnisse und praktischen Fähigkeiten beherrscht.[184] Deshalb ist Vorsicht geboten beim Einsatz im Notarztwagen, auch wenn der noch unerfahrene Arzt den Fachkundenachweis „Rettungsdienst“ erworben hat,[185] und regelmäßig ist auch sein Einsatz im Kreißsaal oder Bereitschafts- bzw. Nacht- und Wochenenddienst auf geburtshilflichen Abteilungen oder in der Anästhesiologie erst nach einer gründlichen, abgestuften, mehr oder weniger langen Einarbeitungs- und Bewährungszeit zu vertreten. Denn im Notfall – und solch kritische Situationen sind ja im Rettungsdienst, auf Intensivstationen, bei Narkosekomplikationen und unter der Geburt nicht selten – muss innerhalb kürzester Zeit die Situation erkannt und medizinisch sachkundige Hilfe geleistet werden.[186]
Anderenfalls können Schäden eintreten, die „zu den schwersten“ gehören, die „überhaupt denkbar sind“.[187] Der aufsichtführende Arzt, der sich über die erforderliche Sachkunde und Erfahrung des Berufsanfängers Gewissheit verschaffen muss,[188] sollte ihm daher in immer größerem Umfang Aufgaben zur eigenverantwortlichen Erledigung übertragen. Dadurch erlangt dieser größere Selbstständigkeit und kann dabei lernen, praktisch ohne ständige Anleitung zu arbeiten,[189] doch muss ein Facharzt rufbereit im Hintergrunddienst zur Verfügung stehen.
ee) Personelle Voraussetzungen in der Geburtshilfe
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Für die ärztliche Geburtshilfe bedeutet dies, dass in geburtshilflichen Abteilungen ein „im Fachgebiet Frauenheilkunde und Geburtshilfe tätiger Arzt“ (mit abgeschlossener oder begonnener Weiterbildung) „ständig rund um die Uhr im Bereitschaftsdienst verfügbar sein muss. Ein Berufsanfänger, der im Regelfall kaum qualifizierter als eine Hebamme ist (vielfach eher weniger), wird deshalb bei Auftreten einer Komplikation für Mutter und/oder Kind, sofern er die kritische Lage überhaupt erkennt (!), stets den Rufbereitschaftsdienst leistenden Arzt zur Vermeidung eines eigenen Übernahmeverschuldens hinzuziehen müssen. Dieser muss Facharzt im formellen Sinn und innerhalb von 10 Minuten im Krankenhaus einsatzbereit sein.[190]
Der selbstständige Einsatz eines unerfahrenen Assistenzarztes im Kreißsaal trägt daher kaum zur Erhöhung des Sicherheitsstandards bei, sondern bedeutet die bewusste Inkaufnahme eines höheren Risikos, das nur nach Ausschöpfung aller organisatorischen Möglichkeiten als ultima ratio eingegangen werden sollte.[191] Die Arbeitsgemeinschaft Medizinrecht der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe[192] hatte deshalb mit Recht warnend auf die haftungsrechtlichen Risiken einer Diensteinteilung des früheren AiP zu Bereitschafts- und Nachtdiensten hingewiesen und dessen Einsatz ohne Präsenz eines Facharztes für unverantwortlich erklärt, gleichgültig, ob dieser sich rufbereit zu Hause oder im Krankenhaus aufhält, aber von Fall zu Fall geweckt werden muss.
ff) Personelle Voraussetzungen in der Anästhesie
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Auch die Deutsche Gesellschaft für Anästhesiologie und Intensivmedizin sowie der Berufsverband Deutscher Anästhesisten betonten in einer gemeinsamen Stellungnahme, die Durchführung von Anästhesieverfahren dürfe nur von erfahrenen Ärzten vorgenommen und nicht auf ärztliche Anfänger delegiert werden, zumal ja in der Anästhesiologie „auch ein voll approbierter Arzt erst nach einer etwa halbjährigen Einarbeitungszeit zum Bereitschaftsdienst eingeteilt“ werden solle.[193]
Die spezifische Gefahr für den Patienten bei selbstständiger Tätigkeit eines noch in Weiterbildung befindlichen Arztes liegt oft ja gerade darin, dass dieser auftretende Komplikationen oder klinische Anzeichen einer sich anbahnenden Krise nicht bemerkt und deshalb den Hintergrunddienst nicht oder jedenfalls nicht rechtzeitig hinzuzieht.[194]
g) Differenzierungen des Sorgfaltsmaßstabs (Standards)
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Im Bereich der objektiven Sorgfaltspflicht, also des medizinischen Standards, ist hinsichtlich der jeweiligen spezifischen Stellung und Situation des Arztes zu differenzieren. Da „die Durchschnittsanforderungen an dem engeren sozialen Bereich zu orientieren sind, in dem der Einzelne tätig ist,“[195] variiert die objektiv erforderliche Sorgfalt je nachdem, welche konkrete Position der Arzt ausfüllt, ob es sich z.B. um einen Arzt für Allgemeinmedizin, einen Facharzt oder den Leiter einer Universitätsklinik handelt, der alle technischen, diagnostischen und therapeutischen Möglichkeiten zur Hand hat. „Ein Facharzt schuldet ein anderes Maß an Sorgfalt als der Arzt für Allgemeinmedizin und entsprechende Unterschiede sind auch zwischen dem klinisch tätigen und dem niedergelassenen Arzt zu machen“.[196] In gleicher Weise differieren Art und Maß der objektiv erforderlichen Sorgfalt je nach der konkreten Situation, in der sich der jeweilige Arzt befindet, „mit ihren räumlichen und zeitlichen Bedingtheiten, den gegebenen Umständen und tatsächlichen Verhältnissen“.[197] Es leuchtet ein, dass die generell von einem gewissenhaften Arzt zu fordernde Sorgfalt bei plötzlichen Komplikationen, die zu einem raschen Entschluss und zu schnellem Handeln nötigen, niedriger anzusetzen ist als bei wohlvorbereiteten Eingriffen. Entsprechendes gilt je nachdem, ob diese in einem kleineren kommunalen Krankenhaus oder in einer Universitäts- bzw. Spezialklinik vorgenommen werden.
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Der Maßstab für die ärztliche Behandlung und Haftung ist daher situationsorientiert, abhängig von den verfügbaren ärztlichen, pflegerischen, räumlichen, apparativen und sonstigen therapeutischen Mitteln, so dass es zwangsläufig „zu Qualitätsunterschieden in der Behandlung von Patienten“ kommen muss und „in Grenzen der zu fordernde medizinische Standard je nach den personellen