Arztstrafrecht in der Praxis. Klaus Ulsenheimer
Bestimmung der objektiv gebotenen Sorgfalt aus der Sicht ex ante
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Was heute Standard ist, kann morgen schon überholt sein. Denn der Standard ist keine rein statische Größe, die gesicherte, abgeschlossene Bereiche umfasst wie z.B. die Gebote der Sterilität oder des blutsparenden und gewebeschonenden Operierens.[98] Der „Standard“ enthält vielmehr eine dynamische Komponente, die von der Entwicklung und dem jeweiligen Fortschritt des Fachgebiets abhängt, also neue Erkenntnisse und Erfahrungen, neue technische Möglichkeiten, z.B. im Bereich der minimal-invasiven Chirurgie, in sich aufnimmt und dadurch in einem fließenden Prozess das Gute besser macht.[99] Die vom Gesetz geforderte „im Verkehr erforderliche Sorgfalt“ verlangt ein ständiges Sichanpassen an Umstände und Gefahren,[100] die fachlichen Standards sind also in dauernder Entwicklung.[101] So wurde z.B. die heute anerkannte Marknagelung bei Frakturen langer Röhrenknochen zum Zeitpunkt ihrer Einführung durch Küntscher im Jahre 1940 als „gefährliche Außenseitermethode“ bezeichnet oder die früher konservative Behandlung von Gelenkfrakturen durch das operative Verfahren abgelöst.[102] Ein anderes Beispiel für das Entstehen eines neuen Standards bietet die wissenschaftliche Diskussion um die Pflicht zur Vornahme der Thromboseprophylaxe bei (an der unteren Extremität) immobilisierten Kranken: Die Ansicht, sie generell ab einem gewissen Alter (oder davon unabhängig) vorzunehmen, wurde zunächst modifiziert: nur dann, wenn zusätzliche dispositionelle Faktoren vorliegen, und schließlich der individuellen Abwägung im Einzelfall überantwortet (so die Empfehlungen zur perioperativen Thromboseprophylaxe vom März 2009).[103]
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Deshalb kommt es für die Beurteilung des Standards auf die Sicht ex ante[104] an, d.h. auf den Zeitpunkt der Vornahme oder Unterlassung der gebotenen ärztlichen Maßnahme, konkret auf die Frage, wie sich ein gewissenhafter und erfahrener Facharzt derselben Fachrichtung in gleicher Situation, also zur Zeit der Behandlung, verhalten hätte. Gleiches gilt für die Richtlinien, Leitlinien und Empfehlungen der Fachgesellschaften. Wenn es um die Beurteilung eines Geburtsverlaufs und Schadensereignisses aus dem Jahre 1990 geht (das makrosome Kind hatte eine Schulterdystokie und nachfolgend eine Clavikulafraktur nebst Erb'scher Lähmung erlitten), so dürfen nicht – wie fälschlicherweise geschehen – die Mutterschaftsrichtlinien aus dem Jahre 1999, sondern müssen die zum streitgegenständlichen Zeitpunkt gültigen Richtlinien der Begutachtung zugrunde gelegt werden.[105]
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Es ist grundsätzlich unzulässig, einen ärztlichen Sachverhalt aus der rückblickenden Perspektive ex post zu Ungunsten des Arztes zu beurteilen. Dem Richter wird nicht eine „nachträgliche Diagnose“ des Sachverhalts (ex post), sondern eine „objektiv nachträgliche Prognose“ (ex ante) abverlangt.[106] Später bekannt gewordene Umstände, neue klinische Entwicklungen und Erfahrungen, nachträgliche wissenschaftliche Erkenntnisse und Forschungsergebnisse dürfen den Arzt nicht belasten, können sich aber zu seinen Gunsten auswirken, indem „sie seine therapeutischen Maßnahmen rechtfertigen“.[107] Die verfehlte ex post-Argumentation in Kenntnis späterer Umstände bezeichnet Bockelmann als „Todsünde des Richters“, die mit anderen Todsünden gemein habe, „dass die Versuchung, sie zu begehen, immer groß ist“.[108] Im Nachhinein, rückblickend im Wissen um den Ausgang des Falles, ist es natürlich meist viel leichter zu entscheiden, was man in dieser oder jener Lage hätte tun sollen – und in dieser Position befinden sich Juristen und Sachverständige. „Welche Sorgen und Zweifel aber der Arzt durchmacht, der die Lage meistern soll, ohne den weiteren Verlauf voraussehen zu können, und wie schwierig es ist, das Richtige zu finden, das weiß nur der, der solche Lagen aus eigener Erfahrung kennt“.[109] Den auch jenseits der Medizin bei Gerichten verbreiteten Rückschaufehler zurückzudrängen, stellt eine der bedeutsamsten Aufgaben der strafgerichtlichen Praxis und insbesondere der Verteidigung dar.[110] Dies gilt insbesondere bei besonders schweren Folgen und damit bei § 222 StGB.[111] Die Verteidigung muss das Wissen der Staatsanwaltschaft, des Gerichts und möglichst bereits früh des Sachverständigen um die psychologische Falle des Rückschaufehlers mehren, um die Beurteilenden zu sensibilisieren; argumentativen Rekursen auf den eingetretenen Schaden muss die Verteidigung kritisch und akribisch nachgehen.[112]
aa) Therapiefreiheit und medizinischer Fortschritt
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Gibt es mehrere medizinisch anerkannte Heilmethoden oder haben sich noch keine Standard-Behandlungsregeln durchgesetzt, geht ein „Schulenstreit“ nicht zu Lasten des behandelnden Arztes, vielmehr hat die Judikatur stets den Grundsatz der Therapiefreiheit als notwendiges Korrelat des medizinischen Fortschritts anerkannt und damit dem Arzt in medizinischen Fragen einen gewissen Freiraum eingeräumt. Schon in einer frühen Entscheidung des Reichsgerichts lesen wir:
„Die Kurierfreiheit gilt – vorbehaltlich der sondergesetzlichen Ausnahmen – grundsätzlich für Krankheiten aller Art, auch für schwere Krankheiten, ferner für ernst gemeinte – nicht auf Schwindel hinauslaufende – Heilverfahren aller Art; die allgemeinen oder weitaus überwiegend anerkannten Regeln der ärztlichen Kunst genießen grundsätzlich keine Vorzugsstellung vor dem von der Wissenschaft abgelehnten Heilverfahren ärztlicher Außenseiter oder nichtärztlicher Heilbehandler“. [113]
Auch der Bundesgerichtshof ist dieser Linie gefolgt. Wörtlich heißt es u.a. in einem Urteil aus dem Jahre 1991:[114]
„Die Anwendung nicht allgemein anerkannter Therapieformen und sogar ausgesprochen paraärztlicher Behandlungsformen ist rechtlich grundsätzlich erlaubt. Es kann dahingestellt bleiben, ob dies schon deswegen der Fall sein muss, weil sich eine Beschränkung der Methodenfreiheit aus Rechtsgründen als Hemmnis des medizinischen Fortschritts bzw. als Stillstand der Medizin[115] darstellen würde“.
Jedenfalls aber folgt dies aus dem „Selbstbestimmungsrecht eines um die Tragweite seiner Entscheidung wissenden Patienten“. Denn da dieser das Recht hat, „jede nicht gegen die guten Sitten verstoßende Behandlungsmethode zu wählen, kann aus dem Umstand, dass der Heilbehandler den Bereich der Schulmedizin verlassen hat, nicht von vornherein auf einen Behandlungsfehler geschlossen werden“.
bb) Ärztliche Verantwortung und Selbstbestimmung des Patienten
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Die Freiheit begründeter Methodenwahl im Einzelfall ist „unerlässliche Voraussetzung für eine sachverständige, wagnisbereite und verantwortungsbewusste ärztliche Berufsausübung“,[116] „ein Grundpfeiler des ärztlichen Dienstes“.[117] Deshalb darf sie auch der Medizinische Dienst der Krankenversicherung (MDK) nicht einschränken.[118] Die Therapiefreiheit „erlaubt dem Arzt, unabhängig von der Fessel normierender Vorschriften, nach pflichtgemäßem und gewissenhaftem Ermessen im Einzelfall mit seinen Eigenheiten diejenigen medizinischen Maßnahmen zu wählen, die nach seiner Überzeugung unter den gegebenen Umständen den größtmöglichen Nutzen für den aufgeklärt einwilligenden Patienten erwarten lassen“.[119] Drei Elemente sind somit für die Therapiefreiheit konstitutiv: Der Arzt entscheidet über das „Ob“ der Behandlung, er darf dabei nicht zu einer seinem Wissen widersprechenden Methode oder zu einer bestimmten Arzneimitteltherapie gezwungen werden, und es liegt in seiner Verantwortung, über das ihm als geeignet erscheinende diagnostische oder therapeutische Vorgehen zu befinden.[120]
Gleichwohl gibt auch die Therapiefreiheit dem Arzt kein Recht, mit der konkret für richtig erachteten Methode auf den Körper des Patienten zuzugreifen. Er muss nach wie vor grundsätzlich eine Einwilligung nach den §§ 630d und 630e BGB auf der Basis einer Patientenaufklärung einholen. Und diese muss jedenfalls