Arztstrafrecht in der Praxis. Klaus Ulsenheimer
die allgemeinen Verkehrsrücksichten auferlegten Pflichten zuwiderläuft, kann ihre Berechtigung nicht darin finden, dass sie in einem mehr oder minder großen Kreis geübt wird“.[35] Deshalb kommt es – und insoweit herrscht Einigkeit – nicht darauf an, „ob eine medizinisch zur Abwendung eines erheblichen Gesundheitsrisikos für erforderlich gehaltene Behandlungsmaßnahme in der Praxis allgemein durchgeführt wird, sondern nur darauf, ob von dem behandelnden Arzt“ das entsprechende Wissen verlangt und die ärztliche Maßnahme mit den vorhandenen technischen Mitteln vorgenommen werden konnte.[36] Auch eine langjährige Übung ohne Zwischenfälle, die von dem bestehenden medizinischen Minimalstandard nachteilig abweicht, vermag nicht zu entlasten, wenn eine Komplikation eintritt und zu schweren gesundheitlichen Schäden führt.[37]
Zum Teil heißt es in der Rechtsprechung auch, der Arzt schulde „dem ihm anvertrauten Patienten die schnellstmögliche Anwendung der wirksamsten Therapie“,[38] doch ist vor einer Überspannung der Sorgfaltspflichten zu warnen, „insbesondere dort […], wo die Vornahme einer riskanten Handlung der Befriedigung oder Erhaltung wichtiger sozialer Interessen dient“.[39] Sorgfaltswidrig ist vielmehr auch nach dem Maßstab der Rechtsprechung nur die Überschreitung des erlaubten Risikos.[40] Die §§ 222, 229 StGB bedeuten keine Totalvermeidegebote, die jedes gefährliche Verhalten bei Strafe untersagen. Die Rechtsprechung bemüht sich im Strafrecht verstärkt, aber noch deutlich ausbaufähig,[41] die Situation des Handelnden ernsthaft nachzuvollziehen und die Pflichtwidrigkeit seines Handelns nicht ex post aus einem eingetretenen Schadensfall herzuleiten (sog. Rückschaufehler).[42] Beispielhaft führt der Gedanke des erlaubten Risikos dazu, dass Ärzte im Maßregelvollzug nicht schlechthin jedes Tatrisiko ausschließen können müssen, wenn sie für eine Lockerung votieren.[43] Regelmäßig liegt aber ein unerlaubtes Risiko vor, wenn sich jemand auf Handlungen einlässt, deren Gefahren er nicht zu beherrschen weiß (sog. Übernahmeverschulden).[44]
dd) Normativität des Standards
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Begründet wird der strenge Maßstab zum einen damit, dass bei der ärztlichen Berufsausübung „höchste Güter des Menschen“ – Leben und körperliche Unversehrtheit – „auf dem Spiele stehen“,[45] und zum anderen damit, dass der Patient dem Arzt quasi schutzlos ausgeliefert ist und daher „Fehler des Arztes und seiner Hilfspersonen nur in seltenen Ausnahmen rechtzeitig erkennen und selbst Gegenmaßnahmen treffen kann“.[46] Deshalb gelten z.B. die „schon grundsätzlich hohen Sorgfaltsanforderungen für den besonders gefahrenträchtigen Bereich der Transfusionsmedizin erst recht“.[47] Standard ist daher „nicht nur eine Beschreibung tatsächlich geübten ärztlichen Verhaltens, sondern auch eine normative Kategorie in Gestalt von anerkanntem, auch in der juristischen Praxis für richtig und erforderlich angesehenem Verhalten“[48] und gilt deshalb – grundsätzlich unabhängig von den „Versicherungsverhältnissen“ – für alle Patienten in gleicher Weise (zum Problem siehe aber auch Rn. 75 f. und 81 ff.).[49]
c) Standard und Leitlinien
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Im jüngeren medizinischen Schrifttum wird der Begriff des „Standards“ teilweise als zu streng empfunden, weshalb man zunehmend von „Leitlinien“ spricht, „um mehr Bewegungsfreiheit zu bekommen“.[50] Aus haftungsrechtlicher Sicht ist dies jedoch ein Irrtum oder Missverständnis. Denn die Rechtsprechung stellt zur Bestimmung des gesetzlichen Terminus „im Verkehr erforderliche Sorgfalt“ (§ 278 BGB) auf den „Facharztstandard“ oder den gleichbedeutend verstandenen Begriff des „Standes der Wissenschaft“ ab. Ausdrücklich betont der BGH,[51] dass „Leitlinien von ärztlichen Fachgremien oder Verbänden nicht unbesehen mit dem zur Beurteilung eines Behandlungsfehlers gebotenen medizinischen Standard gleichgesetzt werden“ dürfen. Denn dieser wird „nicht, jedenfalls nicht allein“ durch Leitlinien, Richtlinien oder Empfehlungen der zuständigen medizinischen Fachgesellschaft oder sonstiger Gremien wie der Bundesärztekammer geprägt. „Vielmehr beurteilt sich die – bei der regelgerechten Behandlung – zu beobachtende Sorgfalt nach dem medizinischen Wissensstand zur Zeit der Behandlung“.[52] Derartige Richtlinien, Leitlinien oder Empfehlungen „können diesen Erkenntnisstand […] nur deklaratorisch wiedergeben, nicht aber konstitutiv begründen“,[53] sie haben keine Rechtsnormqualität.[54] Leitlinien sind zwar „regelmäßig eine zu beachtende Erkenntnisquelle“, doch fügt etwa das OLG Köln mit Recht einschränkend an, „allerdings nur dann, wenn sie den maßgeblichen Facharztstandard für den zu begutachtenden Fall mit seinen individuellen Gegebenheiten wiedergeben“.[55] Der Arzt muss deshalb, „um den erforderlichen Erkenntnisstand zu erlangen, die einschlägigen Fachzeitschriften des entsprechenden Fachgebiets, in dem er tätig ist, regelmäßig lesen“[56] und sich stetig zeitnah[57] fortbilden.
aa) Maßgeblichkeit des Standards
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Deutlich und zutreffend kommt in diesen Urteilen die mögliche inhaltliche Verschiedenheit von Leitlinien, Richtlinien oder Empfehlungen einerseits und dem fachspezifischen Standard andererseits zum Ausdruck, was vielfach von Juristen und Ärzten nicht beachtet wird. Der medizinische Standard – und nicht eine Richtlinie, Leitlinie oder Empfehlung – ist und bleibt im Haftungsprozess der entscheidende Maßstab. Ein besonders instruktives Beispiel für diese Tatsache ist folgende Entscheidung des OLG Düsseldorf.
Beispiel:
Konkret ging es um die Behandlung einer Patientin, die sich gegen Röteln impfen lassen wollte. Der daraufhin durchgeführte Röteln-Test ergab einen Wert, der nach den damals (1978) geltenden Mutterschaftsrichtlinien des Bundesausschusses der Ärzte und Krankenkassen in der Fassung vom 16.12.1974 eine Impfung nicht erforderlich machte. Da die 1980 geborene Tochter der Patientin jedoch die typischen Zeichen einer schweren Rötelnembryopathie aufwies, klagte sie gegen den Frauenarzt mit der Begründung, er hätte im Rahmen der Schwangerenbetreuung weitere Maßnahmen ergreifen, insbesondere den Testwert weiter abklären müssen.
Landgericht und Oberlandesgericht gaben der Klage statt und auch die Revision des beklagten Arztes zum Bundesgerichtshof hatte keinen Erfolg. Übereinstimmend erklärten die Gerichte, der Gynäkologe hätte sich bei der Betreuung der Patientin nicht auf die schon mehrere Jahre alten Mutterschaftsrichtlinien verlassen dürfen. Denn
„aufgrund der Darlegungen des Sachverständigen ist davon auszugehen, dass es auch nach dem damaligen wissenschaftlichen Erkenntnisstand eines Facharztes für Frauenheilkunde und Geburtshilfe geboten war, bei dem erhobenen Wert eine Klärung der Immunitätslage herbeizuführen. Für den Fall eines Rötelnverdachts ergab sich daraus die Notwendigkeit, weitere Maßnahmen zu ergreifen, um eine Gefährdung des Embryos hinreichend sicher auszuschließen“. [58]
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Obwohl also unter Zugrundelegung der gültigen Mutterschaftsrichtlinien der betroffene Arzt von einer ausreichenden Immunitätslage der Patientin ausgehen durfte, wurde er rechtskräftig zu Schadensersatz verurteilt, weil es auf den zum Zeitpunkt der Behandlung geltenden „Stand der Wissenschaft“ (Facharztstandard), d.h. das in Wissenschaft und Praxis Anerkannte ankommt. Deshalb sind die Anforderungen an die Fortbildungspflicht des Arztes (näher zu ihr Rn. 132 f.) außerordentlich hoch, er muss die wissenschaftliche Diskussion verfolgen und den jeweiligen „state of the art“ kennen. Neue Erkenntnisse und Erfahrungen der Wissenschaft muss er kurzfristig umsetzen.[59] Denn der ständige wissenschaftliche und technische Fortschritt führt zwangsläufig dazu, dass die fachlichen Standards nicht etwas Gegebenes, Erreichtes, Abgeschlossenes sind, sondern einem fortschreitenden Prozess, einem ständigen Wandel und Wechsel unterliegen. Eine dauerhafte