Arztstrafrecht in der Praxis. Klaus Ulsenheimer
geben im Idealfall“ den Standard lediglich „für einen gewissen Zeitraum wieder“.[61] Hinzu kommt, dass bisweilen selbst sog. evidenzbasierte Leitlinien fragwürdig sind, weil sie auf Studienergebnissen beruhen, die – von pharmazeutischen Unternehmen finanziert – nicht streng objektiv sind.[62] Deshalb muss der haftungsrechtliche Behandlungsstandard auch stets – und nicht nur „notfalls“, wie Ziegler meint[63] – von einem medizinischen Sachverständigen ermittelt und dem Gericht bzw. Staatsanwalt erläutert werden (siehe dazu Rn. 134).
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Bei alledem wird nicht verkannt, dass die strukturierende Wirkung der verschiedenen Regelwerke die Qualität der Krankenbehandlung nicht selten fördern wird. Sie hilft, Über-, Unter- und Fehlversorgung zu vermindern. Indem sie Transparenz schafft, macht sie das Handeln des Arztes medizinisch messbarer und berechenbarer. Zu achten ist jedoch in jedem Fall darauf, dass sich nicht gesundheitsökonomische Ziele mit der lex artis vermischen.[64] Auch wenn nach wie vor die sog. best practice nicht sogleich der Standard sein kann, darf ein medizinisch längst als wissenschaftlich unstreitig überlegen und allgemein praktizierbar erkanntes Vorgehen nicht verdeckt zurückgesetzt werden; vielmehr wäre die Abschwächung aus rein wirtschaftlichen Gründen offen zu legen, damit ggf. eine Debatte um die notwendigen Mittel stattfinden kann. Ferner sollten alle Empfehlungen, Richtlinien und Leitlinien auf die haftungsrechtlichen Konsequenzen mangelnder finanzieller Mittel hinweisen, was derzeit aber leider nicht oder kaum geschieht.
bb) Prozessuale Bedeutung der Leitlinien
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Richtig ist daher die in den Leitlinien der AWMF, der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften e.V., routinemäßig abgedruckte – oftmals überlesene – Anmerkung, dass weder die Befolgung noch die Abweichung von einer bestehenden Leitlinie stets – und hierauf liegt die Betonung – eine haftungsbefreiende bzw. haftungsbegründende Wirkung hat. „Das bedeutet, dass eine medizinische Behandlung, die nicht den Leitlinien entspricht, nicht zwingend behandlungsfehlerhaft ist“.[65] „Ärztlichen Leitlinien sind somit in der konkreten Behandlungssituation und damit auch in deren haftungsrechtlicher Beurteilung Grenzen gesetzt“.[66] „Vor einer Überbewertung der Leitlinien im Arzthaftungsprozess ist deshalb zu warnen“.[67] Es muss immer im konkreten Fall geprüft werden, ob insoweit Richtlinien, Leitlinien oder Empfehlungen bestehen (zur ggf. verteidigungsfördernden Wirkung Rn. 82), ob sie dem medizinischen Standard entsprechen und, wenn ja, ob der Arzt ihnen folgen muss oder sachliche Gründe für ein abweichendes Vorgehen sprechen bzw. es sogar erfordern. Dies gilt, wie ein Urteil des OLG Düsseldorf zeigt,[68] auch für die Richtlinien des Gemeinsamen Bundesausschusses der Ärzte und Krankenkassen. Sie sind zwar nach § 91 Abs. 6 SGB V und nach der Rechtsprechung des BSG[69] für die gesetzlich Versicherten, die Krankenkassen, die an der ambulanten Versorgung teilnehmenden Leistungserbringer und für die zugelassenen Krankenhäuser als „untergesetzliche Normen“ rechtlich verbindlich und deshalb auch im Bundesanzeiger bekannt zu machen (§ 94 Abs. 2 SGB V). Entgegen der Ansicht des BGH[70] sind sie aber nicht notwendigerweise der „ärztliche Standard“[71].
cc) Differenzierung der Leitlinien
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Nach der erwähnten Rechtsprechung haben die Richtlinien des GBA gem. § 92 Abs. 1 SGB V eine Sonderstellung, die auf der „Legitimation und Intention der regelschaffenden Institution[72] beruht. Sie sind von den Körperschaften der Krankenkassen und Ärzte auf Grund gesetzlicher Ermächtigung gemeinsam zu dem Zweck erlassen worden, eine den Vorgaben des Gesetzes entsprechende ambulante ärztliche Versorgung der Versicherten zu gewährleisten“.[73] Insofern wirken sie „nicht unerheblich auf das Entstehen eines medizinischen Standards“ ein,[74] da sich eine nach diesen Richtlinien nicht abrechnungsfähige Behandlung in Deutschland „schwerlich zum Standard wird entwickeln können“.[75]
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Dagegen haben die Richtlinien der Bundesärztekammer grundsätzlich keinen Normcharakter, da die Bundesärztekammer „als privatrechtlicher Zusammenschluss der öffentlich-rechtlichen Ärztekammern keine durch ihre Mitglieder (die Kammern) begründete Rechtssetzungsgewalt“ hat.[76] Sie sind deshalb „für den Richter, der in eigener Verantwortung über das Vorliegen“ eines Behandlungsfehlers zu urteilen hat, „zwar eine Entscheidungshilfe, sie entbinden ihn aber nicht von der Verpflichtung, auch unter Berücksichtigung abweichender Stellungnahmen der ärztlichen Wissenschaft in jedem Einzelfall zu prüfen“, ob ein Sorgfaltspflichtverstoß zu bejahen oder zu verneinen ist.[77]
dd) Empfehlungen, Leitlinien, Richtlinien
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Aus den vorstehenden Darlegungen folgt, dass die Differenzierung zwischen „Empfehlungen“, die man befolgen könne, „Leitlinien“, die man befolgen solle, und „Richtlinien“, die man befolgen müsse, aus der Sicht des Haftungsrechts unzutreffend ist und keinen irgendwie gearteten Erkenntnisgewinn bringt.[78] Auch in den einschlägigen Gerichtsurteilen werden die Begriffe synonym verwandt.[79]
Zuzugeben ist allerdings, dass rein sprachlich mit dem Begriff „Richtlinie“ mehr Verbindlichkeit gefordert wird als mit dem Begriff „Leitlinie“ und diese wiederum begrifflich mehr Beachtung verlangt als die bloße „Empfehlung“. „Auch innerhalb des rechtlich eigentlich nicht unmittelbar Unverbindlichen gibt es also faktische und gewollte Abstufungen der Verbindlichkeit“[80] bis hin zur Rechtsnormqualität der Richtlinien des GBA. Alle diese Begriffe bedeuten unter dem Blickwinkel der Arzthaftung aber inhaltlich und funktionell dasselbe: Sie sind lediglich, aber auch immerhin, Orientierungshilfen bzw. „deutliche Anhaltspunkte für das gebotene Verhalten“,[81] den medizinischen Standard.
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Dabei ist zwischen sog. S1-, S2- und S3-Leitlinien zu unterscheiden:[82] Bei der S1-Leitlinie handelt es sich um eine „von einer repräsentativ zusammengesetzten Expertengruppe der Medizinischen Fachgesellschaft im informellen Konsens erarbeitete Empfehlung“[83]. Eine S2-Leitlinie stellt eine in einem formalen Abstimmungsprozess wissenschaftlicher Fachgesellschaften kommentierte Leitlinie dar. Die S3-Leitlinie ist hingegen eine evidenzbasierte Konsensus-Leitlinie auf wissenschaftlicher Grundlage nach systematischer Recherche. Je aktueller, vollständiger und akzeptierter Leitlinien sind, „je mehr sie harmonisierten Verfahrens-, Form- und Qualitätsanforderungen genügen“,[84] je höher der Grad an Evidenz ist, umso mehr spricht dafür, dass diese Leitlinien den medizinischen Standard wiedergeben, so dass ein Abweichen hiervon umso eingehenderer Begründung bedarf. Ein formal anderer Rang ergibt sich aber auch für eine z.B. veraltete S3-Leitlinie nicht.[85]
ee) Klinikinterne Leitlinien
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Von den nationalen Leitlinien der AWMF sind die klinikinternen Leitlinien, clinical pathways oder SOPs (standard operating procedures), die sog. Behandlungspfade, begrifflich zu trennen. Diese beschreiben als institutionsbezogene Handlungsanweisungen, z.B. für ein Krankenhaus, „den Behandlungsablauf berufsgruppenübergreifend von der Aufnahme bis zur Entlassung, soweit er für die Mehrzahl der Patienten mit der entsprechenden Diagnose zutrifft“, und stellen „die für den Krankenhausaufenthalt anfallenden Leistungen und Ressourcen prozessbezogen“[86] dar. Mit Hilfe solcher Behandlungspfade will man u.a. die Behandlungsplanung im stationären Bereich unter DRG-Bedingungen verbessern und die integrativen Elemente der Leistungserbringung fördern.[87] Dabei sind die grundsätzlichen rechtlichen Gesichtspunkte – Einhaltung des medizinischen Standards, des Wirtschaftlichkeitsgebots,