Arztstrafrecht in der Praxis. Klaus Ulsenheimer
Die subjektive Fähigkeit, die objektiven Sorgfaltsanforderungen zu erkennen und zu erfüllen (individuelles Leistungsvermögen und Zumutbarkeit) sowie die subjektive Voraussehbarkeit des Erfolgs und der wesentlichen Elemente des Geschehensablaufs; c) Die Möglichkeit der Unrechtseinsicht (Verbotsirrtum, § 17 StGB).
Anmerkungen
Zur st. Rspr. nur wieder BGH NJW 2018, 961, 962 und BGH HRRS 2020 Nr. 642.
BGH MedR 2004, 386, 387 = BGHSt 49, 1 ff.
Siehe dazu m.w.N. Matt/Renzikowski/Gaede § 15 Rn. 33 ff., 47 ff.
Kapitel 1 Das materielle Arztstrafrecht Vorbemerkung › Teil 1 Fahrlässige Tötung (§ 222 StGB) und fahrlässige Körperverletzung (§ 229 StGB) › II. Die Elemente des Unrechtstatbestandes
1. Der (naturwissenschaftliche) Kausalzusammenhang zwischen Handlung (Unterlassen) und Erfolg
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Der bloße Verstoß gegen die „Regeln der ärztlichen Kunst“, also lediglich die Verletzung irgendwelcher Sorgfaltspflichten, erfüllt für sich allein noch nicht den Tatbestand des fahrlässigen Erfolgsdelikts. Es muss gerade ein Erfolg eingetreten sein, der sich als das „Werk“ der sorgfaltswidrigen Handlung und damit des Täters darstellt. Basis dieser Zurechnungsprüfung, die mit der objektiven Zurechnung einschließlich des Pflichtwidrigkeitszusammenhangs abgeschlossen wird, muss zunächst eine empirische Kausalität des Verhaltens sein:[1] Der Arzt muss durch sein pflichtwidriges Tun oder Unterlassen den Tod bzw. die Körperverletzung des Patienten verursacht haben. Danach „ist als haftungsbegründende Ursache eines strafrechtlich bedeutsamen Erfolges jede Bedingung anzusehen, die nicht hinweggedacht werden kann“ (bei Unterlassungen: nicht hinzugedacht werden kann), ohne dass der Erfolg in seiner konkreten Gestalt mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit entfiele.[2] Hiermit gilt im Strafrecht die sog. Äquivalenztheorie, die mit dem Hilfsmittel der sog. Conditio-sine-qua-non-Formel geprüft wird. Nach ihr ist zwar eine einhundertprozentige naturwissenschaftliche Gewissheit weder zu fordern noch in der Regel – insbesondere im medizinischen Bereich – zu erreichen.[3] Es muss jedoch zur Überzeugung des Gerichts im Strafrecht feststehen, dass zum Beispiel der Tod einer Patientin auch auf dem Verhalten und damit etwa auf der Behandlung durch den etwaigen Täter beruht.[4]
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Die Äquivalenztheorie (Bedingungstheorie) wird im Strafrecht traditionell sowohl von der Rechtsprechung als auch heute noch von großen Teilen der Lehre im Schrifttum zur Feststellung der Ursächlichkeit einer Handlung und abgewandelt auch hinsichtlich Unterlassungen herangezogen und sodann durch die kumulative Prüfung der objektiven Zurechnung eingeschränkt.[5] Aus der Theorie und der von ihr genutzten Conditio-sine-qua-non-Formel ergeben sich eine Reihe wichtiger Folgerungen:
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1. | Alle Bedingungen sind gleichwertig („äquivalent“), auch eine allein unzureichende Bedingung ist Ursache im Sinne dieser Theorie; es ist also gleichgültig, ob neben dieser Bedingung „noch andere Umstände zur Herbeiführung des Erfolges mitgewirkt haben“.[6] Wenn deshalb ein Arzt mehrere Behandlungsfehler begeht, genügt es für die Bejahung des Kausalzusammenhangs, wenn der Erfolg (Tod) bei Vermeidung aller Pflichtverstöße ausgeblieben wäre. Die „Verursachung“ durch einen bestimmten einzelnen dieser Fehler muss nicht nachgewiesen werden, solange klar ist, dass die Handlung(-en) den Erfolg ausgelöst haben.[7] |
2. | Es gibt auf der Ebene der Äquivalenztheorie, die sich auf die Feststellung des empirischen Ursachenzusammenhangs bezieht, keine „Unterbrechung des Kausalzusammenhangs“ durch das Dazwischentreten eines fahrlässig oder vorsätzlich handelnden Dritten: Die Kausalität eines Behandlungsfehlers des Chirurgen wird z.B. nicht dadurch beseitigt, dass dem Intensivmediziner, auf dessen Station der Patient verbracht wurde, gleichfalls ein Fehler unterläuft oder der Patient durch eigenes Missgeschick seine Verletzung verschlimmert.[8] Wird der Patient nach einer fehlerhaften Behandlung durch einen anderen Arzt weiterbehandelt, entfällt die Ursächlichkeit des Fehlers des Erstbehandelnden nur dann, wenn dessen Fehler sich auf den weiteren Krankheitsverlauf gar nicht mehr ausgewirkt hat.[9] Allerdings ist unter dem kumulativ erforderlichen Aspekt der objektiven Zurechnung denkbar, dass einem einzelnen Tatbeteiligten ein überwiegendes Maß an Erfolgsverantwortung zukommt, das die Verantwortung anderer in wertender Betrachtung verdrängt (dazu näher Rn. 549 ff.). |
3. | Scharf zu trennen von der „Unterbrechung des Kausalverlaufs“ und schon auf Kausalitätsebene beachtlich ist der „Abbruch einer Kausalreihe“. Diese Konstellation liegt vor, „wenn ein späteres Ereignis die Fortwirkung einer früheren Ursache beseitigt und unter Eröffnung einer neuen Ursachenreihe den Erfolg allein herbeiführt“.[10] Beispiel: Der Internist hat dem Patienten eine zu hohe Dosis eines Medikaments verschrieben, das nach einigen Tagen tödlich wirken würde. Noch bevor es dazu kommt, erhält der Patient bei einer Blutübertragung Blut der falschen Blutgruppe und stirbt infolge der Fehltransfusion, ohne dass die Übermedikation eine Rolle spielte. |
4. | Für die Bejahung der Kausalität genügt die Beschleunigung des Erfolgseintritts, wenn der Tod, der etwa auf Grund eines Verkehrsunfalls ohnehin eingetreten wäre, durch den Behandlungsfehler eines Arztes nun früher eintritt (dazu näher Rn. 523 ff.). |
5. | Obschon die Conditio-Formel auf eine hypothetische Ursachenelimination zurückgreift, zielt sie auf die Feststellung dessen ab, was tatsächlich geschehen ist. Entsprechend kommt es auf den Erfolg in seiner konkreten Gestalt an. Daher spielen hypothetische Reserveursachen im Strafrecht auf der Ebene der empirischen Kausalität keine Rolle; anders formuliert, ist die sog. überholende Kausalität unter Kausalaspekten unbeachtlich. Nicht real wirksam gewordene Kausalfaktoren bleiben also außer Betracht.[11] Infiziert etwa ein Arzt infolge mangelnder Hygiene einen älteren Patienten mit SARS-CoV-2, der absehbar demnächst an seiner Herzinsuffizienz gestorben wäre, bleibt der tatsächlich infolge COVID-19 eintretende Tod einzig maßgeblich. Zu beachten ist jedoch, dass hypothetische Rettungsverläufe im Ergebnis unstreitig im Strafrecht zugrunde gelegt werden (siehe zur Unterlassung näher Rn. 141 ff.). |
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Eine Sonderproblematik ergibt sich schließlich, wenn ein Arzt oder zwei Ärzte unabhängig voneinander dem Patienten eine jeweils für sich tödliche oder die Gesundheit schädigende Menge eines Medikaments geben. Jede dieser beiden Handlungen kann dann für sich (alternativ), nicht aber kumulativ hinweggedacht werden, ohne dass der Erfolg entfiele. |