Arztstrafrecht in der Praxis. Klaus Ulsenheimer
die präoperative Diagnostik und Indikationsstellung sowie hinsichtlich der postoperativen Absicherung durch die Arbeit der auf den Aufwach-, Intensiv- und Normalstationen Tätigen.[8] Die neuen Strukturen und gesetzlichen Vorgaben im Gesundheitswesen haben zudem die traditionelle Trennung zwischen Praxis- und Klinikbereich aufgelöst und durch die Verzahnung ambulanter und stationärer Versorgung neue Mischformen mit differenzierter Aufgabenteilung im Rahmen der integrierten Versorgung und der medizinischen Versorgungszentren (§ 95 und § 140a SGB V), geschaffen.[9] Die ständige Erweiterung und Vertiefung des Spezialwissens und der besonderen Erfahrungen auf einem bestimmten Fachgebiet sowie die Verwendung immer komplizierterer „Spezialapparaturen“[10] implizieren allerdings nicht nur eine Eliminierung „alter Risiken“ gerade aufgrund der großartigen Erfolge der Medizin, sondern auch eine Evozierung „neuer Risiken“ in Gestalt spezifischer Gefahrenquellen. Denn „je größer die Zahl der an Diagnose und Therapie beteiligten Ärzte, Techniker und Hilfskräfte, je komplizierter und gefährlicher die apparativen und medikamentösen Mittel, je komplexer das arbeitsteilige medizinische Geschehen in einem großen Betrieb, desto mehr Umsicht und Einsicht erfordern Planung, Koordination und Kontrolle der klinischen Abläufe“.[11] Untrennbar mit jeder Teamarbeit sind als typische Kooperationsrisiken verbunden, dass
• | einzelne Mitarbeiter nicht den notwendigen Ausbildungs- und Erfahrungsstand haben, |
• | zu treffende Maßnahmen nicht aufeinander abgestimmt sind, |
• | die gegenseitige Unterrichtung nicht vollständig und klar genug ist, |
• | an „Schnittstellen“ mit erforderlicher Aufgabenabgrenzung „Leerstellen“ verbleiben, für die sich keiner zuständig fühlt. |
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Die daraus resultierenden Organisationsfehler[12] kann man systematisch als
1. | Qualifikationsmängel, |
2. | Koordinationsmängel, |
3. | Kommunikationsmängel, |
4. | Kompetenzabgrenzungsmängel und zudem als |
5. | Delegationsmängel (betreffend Auswahl, Anleitung und Überwachung von Mitarbeitern) |
umschreiben.
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Die Mannigfaltigkeit der Fehlerquellen lässt unschwer erkennen, dass die Zusammenarbeit von Ärzten gleicher oder verschiedener Fachrichtung einerseits und des nichtärztlichen Personals (Pflegekräfte, Hebammen, technische Assistenzen) andererseits für die zu behandelnden Patienten gefahrenträchtig ist und damit auch für alle Behandlungsakteure Haftungs- und Strafbarkeitsrisiken impliziert.
So verwundert nicht, dass innerhalb der für die Arzthaftung maßgebenden Fehlerquellen organisatorische Versäumnisse in den letzten Jahren sowohl straf- als auch zivilrechtlich erheblich an Bedeutung gewonnen haben. An der Spitze der erhobenen Vorwürfe stehen zwar nach wie vor die Behandlungsfehler, aber vielfach sind diese mit der Rüge organisatorischer Mängel verwoben und weisen allgemein auf strukturelle Defizite und insbesondere auf ungenügende personelle oder apparative Ausstattung,[13] mangelnde Koordination im Bereich der Schnittstellen, fehlende Absprachen zwischen den Abteilungen, unzureichende Überwachung des Patienten, den zu frühen selbstständigen Einsatz junger Ärzte oder auch auf Missverständnisse bzw. Missdeutungen der Ärzte untereinander hin, um nur einige Möglichkeiten zu erwähnen. Dabei sind die „Anforderungen der Haftungsrechtsprechung an den Organisationsbereich hoch“,[14] da die richterliche Argumentation stets aus Ex-post-Sicht erfolgt, auf deren Grundlage man natürlich relativ leicht Schwachstellen erkennen und notwendige Abhilfemaßnahmen fordern kann.
b) Rechtliche Systematisierung von Organisationsfehlern
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Wie bereits eingehend systematisch dargestellt[15], bildet das fundamentale Tatbestandsmerkmal der Fahrlässigkeitsdelikte § 222 und § 229 StGB die Verletzung der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt im Zusammenhang mit der Behandlung eines Patienten. Diese Sorgfaltspflichtverletzung kann sich als Behandlungsfehler,[16] z.B. als individuelle ärztliche Fehlentscheidung in einer konkreten Behandlungssituation, darstellen, oder als Behandlungsfehler, der spezifisch aus einem zugrunde liegenden Organisationsdefizit resultiert. Infolgedessen überrascht nicht, dass angesichts der „Vielfältigkeit“ von Fallkonstellationen auch Organisationsdefizite im eigentlichen Sinne als „generalisierte Qualitätsmängel“ zur Typisierung von „Behandlungsfehlern“ herangezogen[17] bzw. als „Behandlungsfehler im weiteren Sinn“[18] charakterisiert werden. Gleichwohl können auch Organisationsdefizite als solche zu Strafbarkeit und Haftung führen, wenn ihnen eine Sorgfaltspflichtverletzung inhärent ist und daraus kausal ein tatbestandlicher Erfolg (Schädigung oder Tod eines Patienten) resultiert.
Davon zu unterscheiden ist der letztlich rein phänomenologische Aspekt, dass (z.B.) Behandlungsfehler im Sinne fehlerhafter Behandlungsentscheidungen eventuell unmittelbar schädigende Konsequenz für den Patienten haben, während Organisationsmängel praktisch regelmäßig überhaupt erst offensichtlich werden, wenn aus ihnen ein fehlerhaftes Behandlungsagieren im Einzelfall resultiert (z.B. der für den Bereitschaftsdienst auf der Intensivstation noch nicht hinreichend qualifizierte Weiterbildungsassistent stellt eine falsche Indikation). In dieser mangelnden Offenkundigkeit bzw. oftmals nur mittelbar nachteiligen Effektuierung von Organisationsdefiziten liegt gerade deren erhebliches (medizinisches und juristisches) Gefahrenpotential. Exakt unter dem Aspekt dergestalt „versteckter Risiken“ ist unabdingbar, in Kliniken und Arztpraxen ein Risk Management[19] zu etablieren, wie es initial vermittels des Patientenrechtegesetzes mit Inkrafttreten am 26. Februar 2013 in § 137 Abs. 1d SGB V a. F. i.V.m. § 135a Abs. 2 Nr. 2 SGB V explizit normativ vorgegeben wurde. Insofern ist aktuell auf die „Qualitätsmanagement-Richtlinie“ des G-BA gem. § 92 i.V.m. § 136 Abs. 1 SGB V im Hinblick auf die Verpflichtung der Leistungserbringer zum einrichtungsinternen Qualitätsmanagement gem. § 135a Abs. 2 Nr. 2 SGB V hinzuweisen (in Kraft getreten am 16.11.2016).
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Die Korrelation von Behandlungsfehler und Organisationsmangel mögen folgende Beispiele verdeutlichen:
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• | Sieht ein Anästhesist im Rahmen ambulanter Eingriffsdurchführung im niedergelassenen Bereich generell davon ab, die Patienten postoperativ einer personell und apparativ gesicherten postnarkotischen Aufwachphase zu unterziehen, stellt sich dies im Einzelfall als behandlungsfehlerhaft dar. |
• |
Gleiches gilt im Ausgangspunkt für den Krankenhausanästhesisten, der Narkosen ohne anschließend gehörig gestaltete Aufwachphase durchführt, weil HNO-Eingriffe bei Kleinkindern im Klinikum organisatorisch „vorgegeben“ in einem Operationssaal ohne zugehörigen Aufwachraum erfolgen. Im Wissen darum versucht der die Narkose durchführende Anästhesist, die Kinder nach OP-Ende möglichst lange unter seiner Kontrolle im OP-Saal zu halten. Bei erforderlichem Patientenwechsel unterliegen die Kinder bis zur Verlegung auf die Station der Kontrolle ihrer anwesenden Eltern im OP-Vorraum bzw. des in Wechselvorgänge involvierten Personals. Die Eltern werden darauf hingewiesen, notfalls eine Klingel zu betätigen, |