Recht im E-Commerce und Internet. Jürgen Taeger
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Nach § 307 Abs. 2 Nr. 2 BGB ist die Unangemessenheit einer AGB in der Regel zu bejahen, wenn durch die Klausel die Erreichung des Vertragszwecks gefährdet würde. Dies ist nach dem BGH stets der Fall, wenn durch die AGB „Kardinalpflichten“44 abbedungen oder beschränkt werden. Kardinalpflichten oder wesentliche Vertragspflichten meint dabei alle Pflichten, deren Erfüllung die ordnungsgemäße Durchführung des Vertrags überhaupt erst ermöglicht und auf deren Einhaltung der Verwendungsgegner als Vertragspartner regelmäßig vertraut und vertrauen darf.45
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Unter wesentliche Vertragspflichten werden etwa Konstellationen verstanden, bei denen der Verwender für den Fall der Nichterfüllung der Hauptpflicht jegliche Nacherfüllungshaftung ausschließt.46 Ein weiteres Beispiel ist darin zu sehen, dass rechtsverbindlich eine Auskunft eingeholt werden soll, aber in den AGB die Haftung für die Falschauskunft kategorisch ausgeschlossen wird.47 Entscheidend ist also, ob der Vertrag unter Berücksichtigung der fraglichen AGB noch den vom Verwendungsgegner angestrebten erkennbaren Sinn des Geschäfts erfüllen kann.
c) AGB-rechtliche Generalklausel
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Sollte § 307 Abs. 2 BGB keine Hinweise auf die Treuwidrigkeit einer AGB ergeben, so kommt diese noch unter Berücksichtigung der Generalklausel des § 307 Abs. 1 S. 1 BGB in Betracht. Dies hat aber mit Blick auf die bereits zahlreichen, umfänglichen Beschränkungen durch die §§ 307 Abs. 2, 308, 309 BGB sehr restriktiv zu erfolgen. Insbesondere das Ausreizen der Grenzen, die die §§ 308, 309 BGB gewähren, kann in den allermeisten Fällen nicht über § 307 Abs. 1 S. 1 BGB doch zur Unwirksamkeit führen. Als Kriterien für die Frage nach der Angemessenheit einer Klausel können herangezogen werden:48
– Das übrige Vertragswerk: Kompensieren oder verstärken andere Klauseln die nachteilige Wirkung für den Verwendungsgegner?
– Verkehrskreis: Wie üblich sind diese Bedingungen im fraglichen Verkehrskreis? Insbesondere im unternehmerischen Verkehr zu berücksichtigen, § 310 Abs. 1 S. 2 Hs. 2 BGB.
– Preisliche Gestaltung: Wirken sich die nachteilhaften AGB preislich vorteilhaft aus?
– Risikobeherrschung: Werden Risiken auf den Verwendungsgegner abgewälzt, die er sonst nicht tragen müsste?
– Verfassungsrecht: Stehen besondere Grundrechte in Rede, die durch die AGB berührt werden?
Wichtig ist und bleibt eine umfassende Würdigung des Einzelfalls.
d) Intransparente Klauseln
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Schließlich kommt eine unangemessene Benachteiligung gemäß § 307 Abs. 1 S. 2 BGB dadurch in Betracht, dass die Klausel nicht klar und verständlich ist. Dies wird auch als das AGB-rechtliche Transparenzgebot bezeichnet. Im Gegensatz zur überraschenden Klausel liegt der Fehler der AGB hier nicht in ihrer unzureichenden sinnlichen Wahrnehmbarkeit und Erwartbarkeit, sondern in ihrer unzureichenden kognitiven Erfassbarkeit für den Verwendungsgegner und der damit verbundenen Zurückhaltung bei der Geltendmachung von Rechten.49
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Eine solche Situation liegt zum Beispiel vor, wenn der Verwendungsgegner mit einer Vielzahl von Klauseln und Klauselmöglichkeiten konfrontiert wird, die ihm eine korrekte Ermittlung „seiner“ geltenden Bedingungen unzumutbar erschwert.50 Als ebenfalls widersprüchlich empfand es das LG Bochum zu Recht, wenn ein Online-Händler einerseits erklärt, dass bei einer Bestellung bis 11 Uhr werktags noch eine Versendung am selben Tag erfolgt, er andererseits aber eine Lieferzeit von 3–5 Wochen angibt.51
e) Unwirksamkeit unangemessen benachteiligender Klauseln
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Stellt sich heraus, dass eine Klausel den Verwendungsgegner unangemessen benachteiligt, ordnet § 307 Abs. 1 S. 1 BGB die Unwirksamkeit der Klausel als Rechtsfolge an. Eine geltungserhaltende Reduktion der Klausel auf ein AGB-rechtlich akzeptables Niveau kommt nicht in Betracht. Das stünde zum einen der ausdrücklichen Anordnung des § 307 BGB zuwider, zum anderen würde dies dafür sorgen, dass Verwender von AGB nahezu ungestraft treuwidrige Klauseln aufnehmen könnten, da ihnen schlimmstenfalls eine Absenkung auf das gerade noch erlaubte Niveau drohte.52
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Davon zu unterscheiden ist der sogenannte „Blue-Pencil-Test“53: Wenn sich ein Teil einer Klausel sinnvoll in Gänze streichen lässt und der übrigbleibende Klauselbestandteil als solcher einen rechtskonformen Geltungsinhalt hat, kann dieser Teil bestehen bleiben.54 Dies ergibt sich schon aus der Überlegung, dass es keinen Unterschied machen kann, ob zwei Regelungsinhalte sprachlich in einen Satz gepackt werden oder stattdessen zwei verschiedene Sätze oder gar Paragrafen verwendet werden. Die „Klausel“ im Sinne der §§ 307ff. BGB ist folglich nicht nach Überschriften oder Satzeinheiten, sondern nach den Regelungsgegenständen zu bestimmen.55
35 Bezüglich Letzterem ausführlich BGH, Urt. v. 7.12.2010 – XI ZR 3/10, NJW 2011, 1801, 1802f.; Wurmnest, in: MüKo-BGB, 2019, § 307 Rn. 13. 36 BGBl. I 2021, S. 3433. Dazu Fuchs-Galilea, ITRB 2021, 173; Rehfeldt, IPRB 2021, 193. 37 Von rein akademischem Interesse erscheint die Frage, in welchem Verhältnis Unangemessenheit und Treuwidrigkeit stehen, so auch zu Recht Basedow, in: MüKo-BGB, 2019, § 307 Rn. 34. 38 H. Schmidt, in: BeckOK-BGB, 2020, § 307 Rn. 14, spricht sogar von einer Unzulässigkeit wegen einer drohenden „Super-Inhaltskontrolle“. 39 BGH, Urt. v. 20.3.2018 – X ZR 25/17, NJW 2018, 2039, 2040, m. zust. Anm. Hoffmann-Grambow, damals noch § 649 BGB. 40 Zu Recht kritisch Schwab, JuS 2019, 59, 61. 41 BGH, Urt. v. 20.5.2010 – Xa ZR 68/09, MMR 2010, 677. 42 Dies wird deutlich, wenn die Zahlungserbringung des Käufers im Rahmen des § 433 BGB ohne Vereinbarung nicht etwa in das Belieben des Schuldners gestellt wird, sondern als Barzahlung zu erfolgen hat, vgl. Westermann, in: MüKo-BGB, 2019, § 433 Rn. 65; Saenger, in: HK-BGB, 2019, § 433 Rn. 12. 43 So geschehen in OLG Dresden, Urt. v. 3.2.2015 – 14 U 1489/14, K&R 2015, 262; dazu auch Junker, jurisPR-ITR 16/2015 Anm. 5, wo sämtliche gängigen Zahlungsmittel mit einem Aufschlag belegt wurden. Ein verdecktes Zahlungsmittelentgelt, das bei Verwendung bestimmter Zahlungsmittel anfällt, wäre eine unzulässige Umgehung der Anforderungen aus § 312a Abs. 4 Nr. 1 BGB. 44 So etwa bezeichnet von BGH, Urt. v. 27.9.2000 – VIII ZR 155/99, NJW 2001, 292, 301. 45 Siehe etwa BGH, Urt. v. 20.7.2005 – VIII ZR 121/04, BGHZ 164, 11. 46 OLG Frankfurt a.M., Beschl. v. 9.5.2007 – 6 W 61/07, BeckRS 2007, 09846. 47 OLG Frankfurt a.M., Urt. v. 26.6.2008 – 22 U 104/06, NJW-RR 2009, 166, 167. 48 Orientiert an Wurmnest, in: MüKo-BGB, 2019, § 307 Rn. 36ff. 49 Ähnlich Niebling, NJ 2019, 103, 104. 50 AG Frankfurt a.M., Urt. v. 21.2.2006 – 31 C 2972/05, NJW 2006, 3010, 3011 m. Anm. Kappus; von einem „Bedingungssalat“