Handbuch des Strafrechts. Bernd Heinrich

Handbuch des Strafrechts - Bernd  Heinrich


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Liegen aber Umstände vor, aus denen erkennbar wird, dass ein an der Krankenbehandlung Mitbeteiligter seinen Aufgaben nicht gewachsen ist, so tritt an die Stelle des zuschreibungshindernden Selbstverantwortungsprinzips das – unabhängig von der jeweiligen Fachkompetenz bestehende – Prinzip ärztlicher Gesamtverantwortung für den Patienten. Dieses gebietet, den Patienten vor Schäden zu bewahren, die aus offenkundigen Fehlleistungen eines anderen am Behandlungsprozess Beteiligten (Arzt oder Pflegepersonal) resultieren.[539] Die umfassende Gesamtverantwortung greift umso eher ein, je größer das Risiko eines Behandlungsfehlers und die daraus resultierende Gefährdung des Patienten ist.[540] Letzteres gilt insbesondere für die Mitwirkung von krankenpflegerisch ungeschulten, zuhause behandelten Patienten oder bei deren Versorgung durch Angehörige.[541]

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      Des Weiteren trifft die am Behandlungsprozess beteiligten Ärzte die Verpflichtung, Risiken zu minimieren, die sich gerade aus dem Zusammenwirken verschiedener Fachrichtungen ergeben. Diese Koordinierungspflicht gilt insbesondere bei Unverträglichkeit der jeweils verwendeten Methoden oder Instrumente,[542] bspw. dann, wenn bei einer Augenoperation die Anästhesie als Ketanest-Narkose (Zuführung von reinem Sauerstoff in hoher Konzentration) verabreicht wird und der Operateur zum Stillen von Blutungen einen Thermokauter einsetzt, mit dem verletzte Gefäße durch Erhitzung verschlossen werden. Hierbei war es zu einer heftigen Flammenentwicklung gekommen, bei der die Patientin schwere und entstellende Verbrennungen im Gesicht erlitten hatte.[543] Hier rügte der 6. Zivilsenat zurecht, dass „die beteiligten Ärzte sich allein auf die Regelung des eigenen Verantwortungsbereichs beschränkt hätten, ohne untereinander die erforderliche Koordination und Absprache vorzunehmen.“[544]

b) Grenzen des Vertrauensgrundsatzes

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      Keine strafbarkeitseinschränkende Wirkung entfaltet der Vertrauensgrundsatz dann, wenn dem Vertrauen auf richtiges Verhalten anderer erkennbar die Grundlage entzogen ist. Dies ist bspw. im Bereich des Straßenverkehrs dann der Fall, wenn für den Täter das verkehrswidrige Verhalten oder die Verkehrsuntüchtigkeit eines anderen Verkehrsteilnehmers deutlich erkennbar ist.[545] Diese Konstellation, in der das grundsätzlich schutzwürdige Vertrauen in sorgfaltsgemäßes Verhalten Dritter infolge konkreter Verdachtsmomente erschüttert ist,[546] kommt in dem Bereich arbeitsteiliger Patientenbehandlung eine nicht zu unterschätzende Bedeutung zu; ein Beispiel aus der Rechtspraxis:[547] Zwar darf ein nur für die Durchführung der Operation (Testovarektomie, d.h. die Entfernung einer Zwitterdrüse, die die Funktion von Eierstock und Hoden vereint) hinzugezogener Chirurg darauf vertrauen, dass der zuweisende Arzt (Direktor einer medizinischen Universitätsklinik) die Operationsindikation zutreffend gestellt hat. Dies gilt aber dann nicht mehr, wenn sich intraoperativ ein Befund (hier: normale weibliche Anatomie) ergibt, der ihm Anlass geben muss, an der Richtigkeit der Indikation zu zweifeln.[548] In den deutlichen Worten des für die Arzthaftung zuständigen 6. Zivilsenats des Bundesgerichtshofs: „Für einen vergleichbaren Sachverhalt hat der Senat (…) zu den Anforderungen an einen Hausarzt entschieden, dieser dürfe sich zwar im Allgemeinen darauf verlassen, dass die Klinikärzte seine Patienten richtig behandelt und beraten haben, und dürfe meist auch auf deren bessere Sachkunde und größere Erfahrung vertrauen. Anders sei es aber dann, wenn der Hausarzt ohne besondere weitere Untersuchungen auf Grund der bei ihm vorauszusetzenden Kenntnisse und Erfahrungen erkennt oder erkennen müsse, dass ernste Zweifel an der Richtigkeit der Krankenhausbehandlung und der dort seinen Patienten gegebenen ärztlichen Ratschläge bestehen. … Kein Arzt, der es besser weiß, darf (…) sehenden Auges eine Gefährdung seines Patienten hinnehmen, wenn ein anderer Arzt seiner Ansicht nach etwas falsch gemacht hat oder er jedenfalls den dringenden Verdacht haben muss, es könne ein Fehler vorgekommen sein. Das gebietet der Schutz des dem Arzt anvertrauten Patienten.“[549]

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      Eine weitere Einschränkung soll der Vertrauensgrundsatz dadurch erfahren, dass sich auf ihn nicht berufen kann, wer sich selbst „verkehrswidrig“ verhält.[550] Mit dieser Formulierung sind zwei sachlich verschiedene Aussagen verbunden:[551] Zum einen bezeichnet sie eine Ausnahme vom Vertrauensgrundsatz für die Fälle, in denen verkehrswidriges Verhalten der Erwartung sachgerechten Handelns anderer die Grundlage entzieht, weil es Fehlreaktionen zu provozieren geeignet ist oder solche bereits erkennbar sind. Wer andere durch verkehrswidriges Verhalten in eine gefährliche Lage bringt, darf sich nicht darauf verlassen, dass diese die von ihm heraufbeschworenen Gefahren meistern werden. Zum anderen wird mit der Formulierung lediglich die Konsequenz aus der nur sorgfaltspflichtbegrenzenden Funktion des Vertrauensgrundsatzes gezogen. Sie enthält dann die an sich selbstverständliche Aussage, dass im Vertrauen auf sorgfältiges Handeln anderer nicht sorgfaltswidrig gehandelt werden darf:[552] So kann ein die Medikation anweisender Krankenhausarzt sich nicht dadurch entlasten, dass seine offenkundige Fehl-Anweisung von der Stationsschwester bei gehöriger Aufmerksamkeit unschwer hätte erkannt und hierdurch der Tod des Patienten hätte verhindert werden können. Dies bedeutet freilich nicht, dass der sorgfaltswidrig Handelnde auch für solche Folgen seines Verhaltens einstehen muss, die erst durch das Hinzutreten fremder, nach dem Vertrauensgrundsatz außer Betracht zu lassender Sorgfaltswidrigkeiten eintreten. In Abwandlung des eben genannten Beispiels: Der Patient erlitt eine schwere Gewebeschädigung, da die intravenös zu setzende Spritze anweisungswidrig von einer Lernschwester verabreicht und paravenös gesetzt wurde; für diese Nekrose war die vom Stationsarzt angeordnete Fehl-Medikation unerheblich. Würde man demgegenüber allein aus einer Sorgfaltspflichtverletzung pauschal einen Ausschluss des Vertrauensgrundsatzes herleiten wollen, so liefe dieses Überspielen sonst gültiger Zurechnungsvoraussetzungen auf eine unzulässige Sanktionierung eines versari in re illicita als Reaktion auf eine nicht erfolgsrelevante Sorgfaltspflichtverletzung hinaus.[553]

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      Die moderne Medizin ist durch fachgebietsspezifische Spezialisierung und versorgungsstufenbezogene Differenzierung geprägt.[554] Die fachgerechte Patientenbehandlung verlangt nach Spezialisierung einerseits, hinreichender Koordination der arbeitsteilig Zusammenarbeitenden andererseits. Hierbei wird die Behandlung des Patienten auf verschiedene Personen aufgeteilt,[555] die ihre Tätigkeit jeweils weisungsfrei von anderen in fachlicher Gleichordnung ausüben.[556] Horizontale Arbeitsteilung liegt auch dann vor, wenn die weisungsfrei Zusammenwirkenden nicht über den gleichen Ausbildungsstand oder das gleiche Maß an Fachkompetenz verfügen.[557] Die horizontale Arbeitsteilung wird durch Einzel- und Eigenverantwortung jedes Beteiligten geprägt, der für die fachgerechte Erledigung seines eigenen Aufgabenbereiches verantwortlich ist.[558] Bei Bock finden sich instruktive Beispiele aus den Bereichen der interdisziplinären Zusammenarbeit[559] im stationären[560] und ambulanten Bereich[561] sowie zur Zusammenarbeit zwischen Fachärzten für Allgemeinmedizin und anderen Fachärzten bzw. niedergelassenem Arzt und Krankenhausarzt[562] sowie bei der Hinzuziehung eines Konsiliarius[563] oder dem Einschalten eines (Krankenhaus-)Apothekers.[564]

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      Die Sorgfaltspflichten arbeitsteilig zusammenwirkender Mediziner beziehen sich nicht nur auf eigene Behandlungsmaßnahmen. Sie erstrecken sich auch auf die Organisation ihrer Zusammenarbeit, um patientenschädlichen Risiken der Arbeitsteilung entgegenzuwirken. Hierzu zählt auch die hinreichende Bestimmung der Zuständigkeitsbereiche, um gerade in Grenzbereichen Überschneidungen und Lücken in der ärztlichen Betreuung zu vermeiden.[565] Zu den Sorgfaltspflichten gehört auch die Festlegung eines behandlungsführenden Arztes, der die Koordination sowie den Kommunikationsfluss gewährleistet und ggf. positive Kompetenzkonflikte entscheidet.[566] Jeder mitwirkende Arzt ist verpflichtet, das eigene Verhalten mit demjenigen der Kollegen derart abzustimmen, dass die fachgerechte medizinische Versorgung des Patienten gewährleistet ist. Diese Koordinationspflicht[567] gilt nicht nur für die Information des Kollegen bspw. über den festgestellten Befund,


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