Handbuch des Strafrechts. Bernd Heinrich

Handbuch des Strafrechts - Bernd  Heinrich


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angeführte Fall: Bei einem pflichtwidrig angeordneten fachübergreifenden Bereitschaftsdienst (hierzu Rn. 106) übersieht der fachfremde Bereitschaftsarzt Krankheitssymptome, die möglicherweise aber auch ein Facharzt fehlgedeutet hätte; oder: Der Patient stirbt bei einer lebensgefährlichen Operation infolge eines groben Behandlungsfehlers des völlig übermüdeten Chirurgen; es ist aber nicht auszuschließen, dass der Patient auch eine fachgerecht ausgeführte Operation (oder bei Nichtvornahme der Operation die einzig möglicher Verlegung in ein für derartige Eingriffe nicht gerüstetes Krankenhaus) nicht überlebt hätte. Dies darf aber nicht – der Einleitung eines Ermittlungsverfahrens entgegenstehend – dahingehend missverstanden werden, dass angesichts des in-dubio-Grundsatzes eine entsprechende Strafbarkeit der Leitungsebene stets auszuscheiden hat: Der Anwendung des Zweifelgrundsatzes ist die freie richterliche Beweiswürdigung vorgeschaltet.[699] Ein Letztes: Eine Inblicknahme patientenferner Entscheider und ihre potentielle Strafbarkeit ist dem Schutz von Leib und Leben potentieller Patienten durchaus dienlich, da angesichts des – gegenwärtig allerdings zumeist fehlenden[700] – generalpräventiven Handlungsdrucks des Strafrechts[701] zu erwarten steht, dass in nicht wenigen Fällen die schadensanfällige Organisation verbessert oder zumindest das jeweilige Behandlungs- und Leistungsvolumen den tatsächlich gegebenen Klinikverhältnissen angepasst wird.[702] Derzeit besteht hingegen für die wirtschaftlich verantwortlichen Klinik-Betreiber eher ein Anreiz, kostengünstige, aber potentiell gefährliche Organisationsstrukturen aufrechtzuerhalten oder sogar neu einzuführen.[703]

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      Mittels der – inzwischen den Leistungserbringern im Gesundheitswesen sozialgesetzlich (§ 135a Abs. 1 S. 1, Abs. 2 Nr. 2 bzw. § 137 Abs. 1d SGB V) aufgegebenen – Qualitätssicherung[704] wird der Erkenntnis, dass ärztliches Handeln unvollkommen sein kann, ebenso wie der Befürchtung Rechnung getragen, dass die Bemühungen um Kostendämpfung zu unkontrollierten Qualitätseinbußen führen könnten. Letztlich soll mit Hilfe qualitätssichernder Maßnahmen – die auch als Instrument zur Steigerung der Wirtschaftlichkeit begriffen werden – ärztliches Handeln besser kontrolliert[705] und die Patientensicherheit erhöht werden.[706] Soweit hierbei für den Regelfall „Handlungsanweisungen“ zur Durchführung einer medizinischen Behandlung aufgestellt werden, so können diese Clinical Pathways[707] als Beispiel für eine gewisse compliancebedingte Prozeduralisierung des Strafrechts[708] angesehen werden.

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      Die Anwendung dieser Instrumente zur Qualitätssicherung – sie können dem Bereich der Criminal Compliance[709] zugeordnet werden[710] – dürfte zur Folge haben, dass durch ihre Etablierung und Fortschreibung die Zahl möglicherweise eine Fahrlässigkeitsstrafbarkeit auslösender Vorkommnisse gesenkt wird.[711] Das Fehlen dieser Instrumente (oder ihre Unvollkommenheit) begründet aber – ungeachtet der für nach § 108 SGB V zugelassenen Krankenhäuser sozialrechtlich bestehenden Pflicht zum Risikomanagement[712] – nicht per se einen Sorgfaltsmangel i.S.d. strafrechtlichen Fahrlässigkeit.[713] Entscheidend für eine Strafbarkeit nach §§ 222, 229 StGB ist die schadensursächliche Verletzung von Organisationspflichten.[714] Es ist allerdings zu erwarten, dass die Instrumente des Qualitätsmanagements zu allgemein höheren Organisationsstandards beitragen und sie dann bei patientenschädigendem Unterschreiten mittelbar doch zu einer Ausweitung der Fahrlässigkeitsstrafbarkeit führen werden.[715]

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      Angesichts der Schadensträchtigkeit ärztlichen Handelns gibt es vielfache Überlegungen zur Einschränkung der Fahrlässigkeitsstrafbarkeit, um sowohl dem Schuldgrundsatz als auch dem Verhaltnismäßigkeitsprinzip (Strafe als ultima ratio) Genüge zu tun: Strafe sollte auf schwerwiegende, rechtsgutsschädliche Verstöße gegen soziale Normen beschränkt sein.[716] Auch bei einer Schädigung des Patienten ist ein deutlicher „Puffer“ zwischen einem (allenfalls zivilrechtliche Rechtsfolgen auslösenden) Unglück und einem zu sanktionierenden Unrecht zu ziehen.

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      Insoweit findet sich eine Reihe von – hier keiner vertiefenden Betrachtung zu unterziehenden – Vorschlägen mit unterschiedlichem Ansatz: Übereinstimmend soll eine Strafbarkeit zumindest bei nur leicht fahrlässigem Verhalten entfallen,[717] wobei diese Restriktion entweder auf bestimmte Tätigkeitsfelder (insbesondere das ärztliche Handeln[718]) beschränkt wird[719] oder generell[720] gelten soll.

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      Während die Rechtsprechung zum Arzthaftungsrecht[721] eine Restriktion der Behandlungsfehlerhaftung ablehnt,[722] finden sich in der Literatur auch de lege lata zahlreiche Vorschläge,[723] um die unter dem Gesichtspunkt hinreichender Bestimmtheit (Art. 103 Abs. 2 GG) ohnehin keineswegs unproblematische Fahrlässigkeitsstrafbarkeit[724] im Wege zulässiger verfassungskonformer Auslegung[725] zu legitimieren. Ihnen allen ist gemeinsam, dass sie Strafbarkeit nur dann vorsehen, wenn der prospektive Fahrlässigkeitstäter ex ante klar hätte erkennen können, wo die Grenze des für ihn erlaubten Risikos liegt und die Fahrlässigkeitsstrafbarkeit beginnt:[726] Während Schlüchter[727] sich dafür ausgesprochen hat, nur bei offensichtlicher und rücksichtsloser Überschreitung des erlaubten Risikos zu bestrafen, soll nach Mikus[728] die offene Verhaltensnorm des Fahrlässigkeitsdelikts durch rechtliche Regelungen oder hinreichend präzise gesellschaftliche Verhaltenserwartungen konturiert werden;[729] bei Lebensbereichen hingegen, bei denen dies nicht der Fall sei, bestünde für den Handelnden ein Beurteilungsspielraum: Von ihm könne dann nicht ein einzig richtiges, sondern eben nur ein verantwortungsbewusst vertretbares Verhalten verlangt werden.[730] Zu einer Restriktion der Fahrlässigkeitsstrafbarkeit gelangt auch Duttge[731] mittels des von ihm präferierten fahrlässigkeitsspezifischen „Veranlassungsmoments“: Für ihn ist Gegenstand des Vorwurfs ein Zuwiderhandeln gegen das Verbot, trotz individuell erkennbaren triftigen Anlasses von dem Verhaltensverlauf in Richtung Rechtsgutsbeeinträchtigung nicht oder nicht rechtzeitig Abstand genommen zu haben.[732] Auf der Grundlage dieser hier nur angedeuteten Überlegungen wird dem Umstand Rechnung getragen, dass in bestimmten Lebensbereichen (etwa im Straßenverkehr, aber eben auch bei ärztlicher Tätigkeit) angesichts ihrer „Schadensgeneigtheit“[733] auch für den gewissenhaftesten Bürger auf die längere Sicht betrachtet Fehlhandlungen geradezu unvermeidlich sind. Diese Fehlleistungen sind – isoliert betrachtet – zwar je für sich vermeidbar, können aber auch dem grundsätzlich sehr sorgfältig Agierenden unterlaufen und sind aufs Ganze der Lebensführung betrachtet unvermeidlich: Lebenslange maschinenhafte Präzision kann und darf[734] die Rechtsordnung nicht verlangen.[735] Würde diesem Gesichtspunkt nicht materiell-strafrechtlich[736] Rechnung getragen, dann liefe dies auf eine das Strafrecht letztlich diskreditierende[737] verschämte Zufallshaftung[738] hinaus. Wie bei der Produkthaftung[739] kommt auch bei der strafrechtlichen Arzthaftung für Behandlungsfehler eine strafbarkeitsbegründende Orientierung an einer vorstrafrechtlichen Verhaltensordnung nur dann in Betracht, wenn sie auch unter dem Blickwinkel eines strafbewehrten Rechtsgüterschutzes als angemessene Freiheitsverteilung begriffen werden kann: Die strafrechtliche Sorgfaltspflicht dient der Zurechnung strafrechtlicher Verantwortlichkeit für die Folgen grob sozialwidrigen Verhaltens, während das Zivilrecht im Allgemeinen bei Schadensfällen auf den Ausgleich von Vermögensschäden abzielt[740] und überdies auch von einer durch wirtschaftliche Leistungsfähigkeit (der Waren-Produzenten bzw. des Krankenhausbetriebs) sowie Versicherbarkeit des Schadensrisikos geprägten Risikozuschreibung ausgeht.

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