Handbuch des Strafrechts. Bernd Heinrich
insbesondere keine unterlassene Hilfeleistung gemäß § 323c StGB dar.[245]
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Im Nebenstrafrecht sind bei der Beurteilung einer Strafbarkeit des Prüfers nach der derzeit (noch) geltenden Fassung des § 96 Nr. 10 AMG die in § 41 AMG vorgenommenen Modifikationen der von § 96 Nr. 10 AMG in Bezug genommenen Regelungen des § 40 AMG zu berücksichtigen.[246] Die VO (EU) 536/2014 formuliert in Art. 31 ff. nur noch besondere Anforderungen für die Durchführung von klinischen Prüfungen mit Einwilligungsunfähigen, Minderjährigen sowie schwangeren und stillenden Frauen.
3. Einwilligungsunfähige
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Besonderen Anforderungen unterliegt die Forschung mit Einwilligungsunfähigen, insbesondere mit psychisch Kranken und geistig Behinderten. Es herrscht ein internationaler Grundkonsens darüber, dass medizinische Forschung in diesem Bereich nur in Betracht kommt, wenn die mit ihr verbundenen Risiken und Belastungen minimal bleiben, der Subsidiaritätsgrundsatz strikte Beachtung findet, das Vorhaben durch eine unabhängige Instanz überprüft und gebilligt und das Selbstbestimmungsrecht des Einwilligungsunfähigen durch die Einwilligung des gesetzlichen Vertreters und die Beachtung seines natürlichen Willens gewahrt wird (vgl. Art. 28 ff. DvH).[247]
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Diesen Konsens bildet auch § 41 Abs. 3 AMG ab, der die vorerwähnten Anforderungen (mit Ausnahme der bereits von §§ 40 Abs. 1 S. 2, 42 Abs. 1 AMG vorausgesetzten Zustimmung der Ethikkommission) in Nr. 1 bis 3 weiter präzisiert und darüber hinaus bestimmt, dass für die Studienteilnahme keine Vorteile gewährt werden dürfen, die über eine angemessene Entschädigung hinausgehen.[248] § 41 Abs. 3 AMG untersagt zunächst die Durchführung klinischer Prüfungen mit gesunden Einwilligungsunfähigen, indem verlangt wird, dass der Einwilligungsunfähige an der Krankheit leiden muss, zu deren Behandlung das zu prüfende Arzneimittel angewendet werden soll.[249] § 41 Abs. 3 Nr. 1 AMG unterwirft die klinische Prüfung mit Einwilligungsunfähigen einer strengen Risiko-Nutzen-Abwägung[250] und verlangt, dass der Einwilligungsunfähige einen unmittelbaren Nutzen aus der medizinischen Forschung ziehen muss; eine Rechtfertigung über einen möglichen Gruppennutzen kommt damit – anders als dies etwa § 41 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 AMG für einschlägig erkrankte Einwilligungsfähige und verschiedene völker- und europarechtliche Rechtsquellen[251] auch für Einwilligungsunfähige vorsehen – nach dem (noch) geltenden Recht nicht in Betracht.[252] Die Einwilligung wird durch den gesetzlichen Vertreter oder Bevollmächtigten nach entsprechender Aufklärung abgegeben (§ 41 Abs. 3 Nr. 2 S. 1 AMG); daneben ist auch der Einwilligungsunfähige aufzuklären, und sein entgegenstehender natürlicher Wille ist zu beachten (§ 41 Abs. 3 Nr. 2 S. 2 i.V.m. § 40 Abs. 4 Nr. 3 S. 3 AMG; vgl. auch Ziff. 29 DvH).[253] Nach dem in § 41 Abs. 3 Nr. 3 AMG verankerten Subsidiaritätsgrundsatz muss die Forschung für die Bestätigung von Daten, die bei klinischen Prüfungen an Einwilligungsfähigen oder mittels anderer Forschungsmethoden gewonnen wurden, unbedingt erforderlich sein. Mit Blick auf Arzneimittelversuche in der Psychiatrie ist überdies an die Regelung des § 40 Abs. 1 S. 3 Nr. 4 AMG zu erinnern, welche die Durchführung klinischer Prüfungen mit Personen, die auf gerichtliche oder behördliche Anordnung in einer Anstalt verwahrt sind, generell für unzulässig erklärt.[254]
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Zukünftig richtet sich die Durchführung klinischer Prüfungen mit einwilligungsunfähigen Personen nach Art. 31 der VO (EU) Nr. 536/2014 und § 40b Abs. 4 AMG n.F. Hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang vor allem, dass die VO (EU) 536/2014 über klinische Prüfungen mit Humanarzneimitteln auch die gruppennützige Forschung mit nicht einwilligungsfähigen Personen[255] unter bestimmten, sehr restriktiven Voraussetzungen für zulässig erklärt. Neben der Beachtung der auch für eigennützige Forschung mit einwilligungsunfähigen Personen geltenden Anforderungen[256] verlangt Art. 31 Abs. 1 VO (EU) 536/2014 in lit. g ii für die gruppennützige Forschung kumulativ, dass die klinische Prüfung im direkten Zusammenhang mit dem lebensbedrohlichen oder zu Invalidität führenden klinischen Zustand steht, unter dem der einwilligungsunfähige Prüfungsteilnehmer leidet, und dass die Prüfung diesen im Vergleich zur Standardbehandlung nur einem minimalen Risiko und einer minimalen Belastung[257] aussetzen darf. § 40b Abs. 4 S. 2 AMG n.F. stellt darüber hinaus klar, dass der Wunsch einer nicht einwilligungsfähigen Person, nicht an einer klinischen Prüfung teilzunehmen, unabhängig davon zu respektieren ist, ob er verbal oder nonverbal zum Ausdruck gebracht wurde.[258] Der deutsche Gesetzgeber hat überdies von der in Art. 31 Abs. 2 VO (EU) 536/2014 eingeräumten Möglichkeit Gebrauch gemacht, strengere Regelungen für gruppennützige klinische Prüfungen mit einwilligungsunfähigen Personen zu erlassen, und deren Durchführung in § 40b Abs. 4 S. 3 AMG n.F. davon abhängig gemacht, dass die betroffene Person im Zustand der Einwilligungsfähigkeit und Volljährigkeit eine Vorausverfügung für den Fall des Eintritts der Einwilligungsunfähigkeit getroffen hat.[259] In diesem Fall hat der Betreuer zu prüfen, ob die in der Vorausverfügung enthaltenen Festlegungen auf die aktuelle Situation zutreffen (§ 40b Abs. 4 S. 4 AMG n.F.); Anforderungen an die Aufklärung der betroffenen Person werden in § 40b Abs. 4 S. 7 und 8 AMG n.F. normiert.[260] § 40b Abs. 4 S. 9 AMG n.F. stellt klar, dass bei Minderjährigen, für die nach Erreichen der Volljährigkeit die Regelungen für nicht einwilligungsfähige Erwachsene gelten würden, gruppennützige klinische Prüfungen nicht durchgeführt werden dürfen.[261] Gleiches gilt für Personen, die (z.B. aufgrund einer von Geburt oder Kindheit an bestehenden geistigen Behinderung) bereits vor Erreichen der Volljährigkeit einwilligungsunfähig sind und die Einwilligungsfähigkeit auch später nicht erlangen, da sie zur Aufstellung einer in diesem Zusammenhang beachtlichen Patientenverfügung nicht in der Lage sind.[262]
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Ein Verstoß gegen die in § 41 Abs. 3 AMG konkretisierten Voraussetzungen der klinischen Prüfung mit Einwilligungsunfähigen kann neben einer Strafbarkeit nach den §§ 223, 229 StGB auch eine solche gemäß § 96 Nr. 10 AMG nach sich ziehen; bei fahrlässigem Verstoß droht gemäß § 97 Abs. 1 Nr. 1 AMG eine Ahndung als Ordnungswidrigkeit.[263] Zukünftig findet insofern § 96 Nr. 11 AMG n.F. Anwendung; dieser kriminalisiert Verstöße gegen Art. 31 Abs. 1 der VO (EU) 536/2014 (der zu diesem Zweck in § 40b Abs. 4 S. 1 Nr. 1 AMG n.F. in Bezug genommen wird[264]) sowie gegen § 40b Abs. 4 S. 2, 3 und 9 AMG n.F. Fahrlässige Verstöße gelten auch weiterhin gemäß § 97 Abs. 1 Nr. 1 AMG als Ordnungswidrigkeit.
a) Eigennützige Forschung im Rahmen einer Notfallsituation
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In Rahmen von Notfallsituationen, die durch „Elemente der Überraschung, der Plötzlichkeit, des Unvorbereitetseins und der Unvorhersehbarkeit“[265] geprägt sind, kann eine umfassende Aufklärung des Probanden, wie sie das Gesetz in § 40 Abs. 2, 2a AMG für klinische Prüfungen mit Arzneimitteln (und in § 20 Abs. 1 S. 4 Nr. 2 MPG a.F. sowie nunmehr in Art. 62 Abs. 4 lit. f, 63 der Medizinprodukte-VO [EU] 2017/745 für solche mit Medizinprodukten) vorsieht, aufgrund des bestehenden Zeitdruckes schwierig oder sogar ausgeschlossen sein.[266] Überdies können Notfallpatienten durch Bewusstseinseintrübungen oder starke Schmerzen an der Abgabe einer (wirksamen) Einwilligung in die Behandlungsmaßnahme gehindert sein.[267] Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob für die Erprobung eines neuen Arzneimittels im Rahmen einer Notfallsituation auf die Einwilligung einer anderen Person zurückgegriffen oder die versuchsweise Behandlung gar ohne aktuelle Einwilligung des Betroffenen durchgeführt werden kann.[268]
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Dabei ist zunächst zu berücksichtigen, dass Notfallmaßnahmen häufig nicht den Charakter einer klinischen Prüfung i.S.d. § 4 Abs. 23 S. 1 AMG aufweisen, sondern (ausschließlich) als individueller Heilversuch einzuordnen sein werden, dessen Bewertung sich nach den allgemeinen Vorschriften des BGB und des StGB richtet (Rn. 31 ff.).[269] Im Anwendungsbereich des AMG besteht bislang mit § 41 Abs. 1 S. 2 AMG eine Sonderregelung, die bestimmt, dass eine Behandlung, die ohne Aufschub erforderlich ist, um