Handbuch des Strafrechts. Bernd Heinrich
nicht eingeholt werden kann. In diesem Fall ist die Einwilligung zur weiteren Teilnahme gemäß § 41 Abs. 1 S. 3 AMG einzuholen, sobald dies möglich und zumutbar ist (zu der in Art. 35 der VO (EU) 536/2014 vorgesehenen Neuregelung vgl. Rn. 75). Aufgrund ihrer systematischen Stellung im Absatz 1 des § 41 AMG, der einschlägig erkrankte Einwilligungsfähige betrifft, erfasst die Regelung unzweifelhaft den Fall, dass die Zustimmung des (einwilligungsfähigen) Probanden zwar eingeholt werden kann, angesichts der Eilbedürftigkeit der Behandlung jedoch keine den Anforderungen des § 40 Abs. 2 AMG genügende Aufklärung möglich erscheint.[270] Nach zutreffender Ansicht ist sie darüber hinaus jedoch auch auf einwilligungsunfähige (etwa bewusstlose) Notfallpatienten anwendbar, bei denen aufgrund des Zeitdruckes die von § 41 Abs. 3 Nr. 2 AMG verlangte Einwilligung eines gesetzlichen Vertreters oder Bevollmächtigten nicht rechtzeitig eingeholt werden kann (für die klinische Prüfung mit Medizinprodukten vgl. insofern § 21 Abs. 4 S. 2 MPG a.F.).[271] Die übrigen in § 41 Abs. 3 AMG normierten Kautelen bleiben hiervon selbstverständlich unberührt, und soweit § 41 Abs. 3 Nr. 2 S. 2 i.V.m. § 40 Abs. 4 Nr. 3 S. 3 AMG für Einwilligungsunfähige die grundsätzliche Beachtlichkeit eines entgegenstehenden natürlichen Willens postuliert, wird man dies in ergänzender Auslegung auch auf Fälle im originären Anwendungsbereich des § 41 Abs. 1 S. 2 AMG zu übertragen haben.[272] Gleiches gilt im Grundsatz auch für eine Patientenverfügung i.S.d. § 1901a Abs. 1 BGB, welche die Teilnahme an Arzneimittelstudien ausschließt.[273] Abgesehen von der Frage, ob die Vorausverfügung die aktuelle Lebens- und Behandlungssituation des Betroffenen hinreichend konkret umschreibt, wird hier in Notfallsituationen allerdings häufig das Problem bestehen, dass die für eine Prüfung der Validität einer vorgefundenen oder von Dritten beigebrachten Patientenverfügung benötigte Zeit nicht zur Verfügung steht.[274]
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Der Verzicht des § 41 Abs. 1 S. 2 AMG auf eine aktuelle Einwilligung des Probanden ist auch bei der Beurteilung möglicher strafrechtlicher Konsequenzen der Behandlung gemäß §§ 223 ff. StGB, § 96 Nr. 10 AMG zu beachten. Außerhalb der spezialgesetzlich im AMG geregelten klinischen Prüfungen ist beim einwilligungsunfähigen Notfallpatienten auf die allgemeinen Grundsätze der mutmaßlichen Einwilligung zurückzugreifen.[275] Dabei ist davon auszugehen, dass der mutmaßliche Wille des Betroffenen regelmäßig auf die Anwendung der etablierten Standardtherapie gerichtet sein wird. Der Einsatz einer neuen, vom Standard abweichenden Methode bedarf deshalb der besonderen Legitimation, die nur durch eine deutlich überlegene Risiko-Nutzen-Relation erbracht werden kann.[276] Ausgeschlossen ist vor diesem Hintergrund die Gabe von Placebos[277] sowie eine Randomisierung, die kaum vom mutmaßlichen Willen des Betroffenen gedeckt sein dürfte.[278] Zu beachten ist, dass Ehegatten sowie andere Angehörige des Betroffenen nicht zu dessen Stellvertretung befugt sind. Sie können lediglich Anhaltspunkte zur Ermittlung seines mutmaßlichen Willens liefern. Auch ein Betreuer kann sich dem Willen des Betreuten gemäß § 1901 BGB nicht entgegenstellen.[279]
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Zukünftig werden die Voraussetzungen für klinische Prüfungen in Notfällen Art. 35 der VO (EU) Nr. 536/2014 über klinische Prüfungen mit Humanarzneimitteln zu entnehmen sein, auf den auch § 40b Abs. 5 AMG n.F. Bezug nimmt (dessen Verletzung wiederum § 96 Nr. 11 AMG n.F. mit Strafe bedroht). Dort wird auf die Dringlichkeit der klinischen Prüfung abgestellt, die im Vergleich zur Standardbehandlung der Krankheit nur ein minimales Risiko und eine minimale Belastung für den Prüfungsteilnehmer aufweisen darf und einen direkten klinisch relevanten Nutzen für diesen versprechen muss (Erreichung einer gesundheitsbezogenen Verbesserung und/oder Linderung des Leidens des Prüfungsteilnehmers, Ermöglichung der Diagnose seiner Krankheit). Die Dringlichkeit ist auch der Grund, der es nicht ermöglicht, im Vorfeld dem gesetzlichen Vertreter alle Informationen bereitzustellen und eine vorherige Einwilligung nach Aufklärung von diesem einzuholen. Ungeachtet dessen muss der Prüfer bescheinigen, dass der Prüfungsteilnehmer nach seiner Kenntnis zuvor keine Einwände gegen die Teilnahme an der klinischen Prüfung geäußert hat.[280] Eine ähnliche Regelung für klinische Prüfungen von Medizinprodukten findet sich seit der Ablösung des MPG zum 26. Mai 2021[281] in Art. 68 der Medizinprodukte-VO (EU) 2017/745, auf den § 28 Abs. 5 MPDG Bezug nimmt.
b) Forschung mit Demenzkranken
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Ähnliches gilt für die Forschung mit demenzkranken Personen. Während die Einwilligungsfähigkeit bei Minderjährigen positiv festgestellt werden muss, ist diese bei Volljährigen grundsätzlich zu unterstellen und erst beim Hinzutreten konkreter Anhaltspunkte – die beispielsweise die Folgen von hohem Alter und Krankheit sein können – zu hinterfragen.[282] Wird bei Demenzkranken die Einwilligungsunfähigkeit festgestellt (was in der Praxis nicht unerhebliche Probleme bereiten kann[283]), so erfolgt die Einwilligung in einen eigennützigen Forschungseingriff durch den gesetzlichen Vertreter oder Bevollmächtigten (vgl. für klinische Studien § 41 Abs. 3 Nr. 2 AMG bzw. § 40b Abs. 4 S. 1 Nr. 1 AMG n.F. i.V.m. Art. 31 Abs. 1 lit. a der VO [EU] Nr. 536/2014).[284] Bzgl. gruppennütziger Forschung besteht zukünftig die Möglichkeit der gezielten Vorausverfügung (§ 40b Abs. 4 S. 3 AMG n.F.; dazu bereits Rn. 70). Zu bedenken ist allerdings, dass die Vorausverfügung das in Rede stehende Forschungsvorhaben hinreichend präzise antizipieren muss. Ansonsten können ihr immerhin Anhaltspunkte für den mutmaßlichen Willen des Betroffenen entnommen werden.[285]
II. Arzneimittelforschung mit Minderjährigen
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Die Bedürfnisse von Erwachsenen und Kindern unterscheiden sich auch in medizinischer Hinsicht zum Teil erheblich. Es besteht daher ein Bedarf an differenzierten Forschungsprojekten, welche die Entwicklung altersgerechter Behandlungsmethoden und medizinischer Produkte gewährleisten und so den Anspruch auf eine wissenschaftlich qualifizierte medizinische Versorgung einlösen, der auch Minderjährigen zusteht.[286] Die Entwicklung spezieller Präparate für Minderjährige stößt allerdings insofern auf Schwierigkeiten, als deren physiologische Entwicklungsschritte nicht linear verlaufen. Jede Altersstufe stellt aufgrund der individuellen Pathomechanismen besondere Anforderungen an die Entwicklung innovativer Therapieformen.[287]
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Medizinische Eingriffe, welche die Voraussetzungen der körperlichen Misshandlung oder der Gesundheitsschädigung i.S.d. § 223 Abs. 1 StGB erfüllen, bedürfen zu ihrer Rechtfertigung der Einwilligung des Betroffenen.[288] Voraussetzung einer wirksamen Einwilligung ist u.a. die Einwilligungsfähigkeit (vgl. § 630d Abs. 1 S. 2 BGB), die gerade bei Minderjährigen fraglich ist. Da der Gesetzgeber auch mit dem 2013 in Kraft getretenen Patientenrechtegesetz[289] keine klare gesetzliche Regelung geschaffen hat, ist hier weiterhin einiges unklar und umstritten.[290] Im Grundsatz anerkannt ist allerdings, dass es für die Einwilligungsfähigkeit nicht auf die zivilrechtliche Geschäftsfähigkeit ankommt, da die Einwilligung keine rechtsgeschäftliche Willenserklärung i.S.d. §§ 104 ff. BGB darstellt; stattdessen ist auf die natürliche Einsichts- und Urteilsfähigkeit abzustellen.[291] Der Betroffene muss die Wirkungen und Risiken der geplanten Behandlung erfassen und deren wesentliche Vor- und Nachteile verständig gegeneinander abwägen können; für die Beurteilung dieser Frage ist neben seinen individuellen Fähigkeiten auch die Komplexität der zu treffenden Entscheidung maßgeblich.[292] Das Vorhandensein der in Rede stehenden Einsichtsfähigkeit wird man bei Minderjährigen kurz vor Vollendung des 18. Lebensjahres regelmäßig annehmen können, bei Kindern unter 14 Jahren hingegen grundsätzlich zu verneinen haben.[293] Für die Lebensphase zwischen diesen beiden Schwellenwerten ist eine Einzelfallbeurteilung anhand des individuellen Entwicklungsstandes und der Art der Behandlung vorzunehmen.[294]
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Während über die Grundsätze zur Bestimmung der Einsichts- und Urteilsfähigkeit weitgehend Einigkeit besteht,[295] ist umstritten, welche Konsequenzen ihr Vorhandensein beim Minderjährigen hat: Eine verbreitete Auffassung im zivilen Arzthaftungsrecht