Handbuch des Verwaltungsrechts. Группа авторов

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der eigenständige Vollzug durch die Unionsorgane erfasst wird, adressiert das Einzelvollzugsmodell den isolierten Vollzug durch die Mitgliedstaaten für ihren jeweiligen Hoheitsbereich. Zunehmend auftretende Sonderformen des indirekten Vollzugs in Verbundsystemen stellen das Transnationalitäts- und das Referenzentscheidungsmodell dar. Bei ersterem liegen die Vollzugs- und Entscheidungsbefugnisse zentral in der Hand eines einzigen Mitgliedstaats, der zugleich für alle anderen entscheidet.[39] Im Referenzentscheidungsmodell bedarf die Entscheidung eines Mitgliedstaates dagegen noch der Rezeption durch die anderen Mitgliedstaaten in einem Anerkennungsverfahren.[40] Es entscheidet hier also nicht „einer für alle“ (wie beim Einzelvollzugsmodell), sondern „einer vorab“.[41] Zur Auflösung etwaiger Meinungsverschiedenheiten wird ein Divergenzbereinigungsverfahren etabliert, das in einer staatengerichteten Entscheidung der Europäischen Kommission (nach dem Komitologieverfahren) mündet.[42] Mit diesen vier Grundmodellen wird ein analytischer Ordnungsrahmen etabliert, der eine systematische Erfassung des disparaten Normbestands und die Identifikation „systemprägender Grundstrukturen“ ermöglicht.[43] Zugleich gilt es zu erkennen, dass einzig das Referenzentscheidungsmodell bereits aus sich heraus ein Kooperationselement beinhaltet.[44] Dessen ungeachtet kann eine entsprechende vertikale oder horizontale Verzahnung je nach sekundärrechtlicher Ausgestaltung auch in den anderen drei Modellen erfolgen.[45]

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      Verbundverwaltung als dritte Kategorie?

      Kontrovers diskutiert wird, ob die Verbundverwaltung als eigenständige dritte Kategorie des europäischen Verwaltungsrechts neben den direkten und den indirekten Vollzug tritt.[46] Insoweit gilt es zu bedenken, dass sich Phänomene der Vollzugsteilung und -verflechtung sowohl im Bereich des Eigenverwaltungsrechts der EU als auch im Unionsverwaltungsrecht zeigen.[47] Das Verbundverwaltungsrecht schiebt sich gleichsam zwischen diese beiden Schichten und überlagert sie integrativ.[48] Es handelt sich mithin nicht um einen kategoriell eigenständigen Teil des europäischen Verwaltungsrechts, sondern um eine neuartige Form der Mischverwaltung.

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      Dritte Phase der Europäisierung

      Wenngleich die Europäischen Gemeinschaften von Beginn an auch als Verwaltungsgemeinschaften konzipiert waren,[49] rückte das Phänomen der Verbundverwaltung erst spät in den Fokus. Einen bedeutenden Schritt markiert die Mitteilung der Kommission „über die Entwicklung der Zusammenarbeit der Verwaltungen bei der Anwendung und Durchsetzung des Gemeinschaftsrechts für den Binnenmarkt“ vom 16. Februar 1994. Darin wurden weitere Schritte zur Intensivierung der administrativen Zusammenarbeit unter den Mitgliedstaaten sowie zwischen diesen und der Kommission skizziert.[50] Näher herausgebildet hat sich das neue Paradigma des Verwaltungsverbunds seit den 2000er-Jahren.[51] Die von der Kommission erstmals im Jahr 2001 explizit aufgegriffene „Verbundverwaltung“[52] läutete gleichsam eine dritte Phase der Europäisierung ein.[53] Eine wichtige Wegmarke setzte der Vertrag von Lissabon mit der bereits erwähnten Einfügung des Titels „Verwaltungszusammenarbeit“ (Art. 197) in den AEUV.[54] Möglich wurde diese Entwicklung angesichts des auf Unionsebene fehlenden Verbots der Mischverwaltung[55] sowie der zunehmenden Ausdifferenzierung des Verwaltungshandelns im Sekundärrecht.[56] Seither hat sich eine Vielzahl bedeutender Referenzgebiete für eine europäische Verbundverwaltung herausgebildet. Sie reichen von der Bankenaufsicht[57] und dem Datenschutzrecht[58] über das Produktzulassungsrecht,[59] das Stoffrecht,[60] die Strukturfonds[61], das Planungsrecht[62] und das Umweltrecht,[63] bis hin zur Regulierung in den Netzsektoren Energie,[64] Telekommunikation[65] und Eisenbahnen[66].

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      Verwandte Begriffe

      Das Konzept des Verwaltungsverbunds bedarf über die Bestimmung des Verhältnisses zur Verwaltungskooperation hinaus[67] auch der Abgrenzung von verwandten Figuren und besonderen Erscheinungsformen wie der Europäisierung, dem Staaten- und Verfassungsverbund, dem Regulierungsverbund, den Netzwerken oder dem europäischen Verwaltungsraum.

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      Europäisierung

      Die Europäisierung umfasst den Prozess fortschreitender Beeinflussung, Überformung und Durchdringung der nationalen Verwaltungsrechtssysteme durch europäisches Rechtsdenken und -handeln.[68] In kritischer Perspektive ist insoweit eingewandt worden, es handele sich um eine „undifferenzierte[n] Denkfigur“, mit der die Verbundverwaltung nicht sachgerecht abgebildet werde.[69] Zwar erfasst die Europäisierung auch Bereiche, die weitgehend von nationalen Behörden ohne Vollzugsverflechtungen vollzogen werden.[70] Beim Verwaltungsverbund stehen überdies weniger die Einwirkungen auf das nationale Verwaltungsrecht als vielmehr die neu entstandenen Verwaltungsstrukturen im Fokus.[71] Wenn daraus aber auf eine Abkehr von der Europäisierung als Denkfigur und die verstärkte Hinwendung zum Konzept des europäischen Verwaltungsverbunds geschlossen wird,[72] kann dies nicht überzeugen. Zu bedenken ist insoweit, dass es sich bei der Verbundverwaltung nur um eine Vollzugsvariante handelt, die zwischen die beiden fortbestehenden Schichten des Eigenverwaltungs- und Unionsverwaltungsrechts tritt.[73] Die Metapher des Europäischen Verwaltungsverbunds adressiert mithin „nur“ einen (wichtigen) Aspekt des weiter gefassten Begriffs der Europäisierung.

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      Staaten- und Verfassungsverbund

      Der Verwaltungsverbund ergänzt die hergebrachten Konzepte des europäischen Staaten- und Verfassungsverbundes um eine administrative Perspektive. Während der Staatenverbund im Verständnis des BVerfG[74] die nationalstaatliche Legitimationsvermittlung betont, stellt die auf Ingolf Pernice zurückgehende Figur des Verfassungsverbunds[75] stärker auf die Integrationswirkung ab.[76] Der Verwaltungsverbund zeichnet sich durch eine – um intergouvernementale Elemente ergänzte – Verflechtung einzelstaatlicher und integrativer Komponenten aus.[77] Er greift existierende Ansätze zur bündischen Struktur der EU als „Integrationsverbund“[78] in der Konkretion einer Verbundverwaltung auf.[79]

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      Regulierungsverbund

      Ein Spezifikum stellt der sog. Regulierungsverbund dar. Bisweilen wird er als „Mischform“ qualifiziert die sich einer klaren Zuordnung zu den Kerntypen des Vollzugs-, Lenkungs- und Aufsichtsverbunds entzieht,[80] während andere Stimmen[81] weitergehend von einer „neuen Qualität“ gegenüber den klassischen Ausprägungen des Verwaltungsverbunds sprechen. Beispiele begegnen in den durch monopolistische Engpassbereiche gekennzeichneten Netzwirtschaften.[82] Die nationalen und europäischen Instanzen geben hier nicht nur einen Rahmen vor und reagieren in der Kontrollperspektive, sondern organisieren und gestalten proaktiv einen Markt. Vor diesem Hintergrund erklärt sich die Einordnung als „eigenständige[r] Sonderfall“ des Verwaltungsverbunds.[83] Zu weitgehend erscheint es indes, wenn sogar eine kategoriale Unterscheidung zwischen Verwaltungs- und Regulierungsverbund erwogen wird.[84] Hierfür lässt sich auch nicht das dem Regulierungsverbund inhärente „Flexibilitäts-Kohärenz-Dilemma“ in Stellung bringen.[85] Danach zielen Netzwerk- und Verbundstrukturen sowohl auf eine einheitliche und effektive Durchsetzung des Unionsrechts als auch darauf, den nationalen Behörden dezentrale Vollzugsspielräume zu belassen.[86] Zur Auflösung dieser prima facie gegenläufigen Anforderungen werden Unionsstellen und nationale Behörden in einen „verdichteten“ Prozess der Regulierung einbezogen.[87] Insoweit ist zwar zuzugeben, dass die Intensität der Verflechtung im Regulierungsverbund eine besondere Ausprägung erfährt. Zu bedenken ist aber, dass die Spannungslage zwischen Flexibilität des Vollzugs und Einheitlichkeit der Rechtsanwendung letztlich alle Formen der Verbundverwaltung kennzeichnet.[88] Vor diesem Hintergrund spricht mehr für eine Einordnung des Regulierungsverbunds als Unterfall des Verwaltungsverbunds.[89]

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      Netzwerk

      Das Konzept des Europäischen Verwaltungsverbunds ist durch Verbindungslinien zum (deskriptiven) Netzwerkbegriff gekennzeichnet.[90] In der Soziologie


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