Pitaval des Kaiserreichs, 5. Band. Hugo Friedländer

Pitaval des Kaiserreichs, 5. Band - Hugo Friedländer


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und sich ein Nachtlogis gesichert hatte, begab er sich auf die Dorfstraße. Da erblickte er einen großen Menschenauflauf. Er eilte hinzu und sah, daß zwei Strolche sich prügelten. Als eine Anzahl Bauernburschen die Kämpfenden getrennt hatte, rief einer der Strolche dem anderen zu: »Du verfluchter Hund, jetzt werde ich dich anzeigen. Du hast vor 2 1/2 Jahren die alte Dame ermordet, der arme Student muß unschuldig im Kerker sitzen.« »Und du hast dabei Schmiere gestanden«, rief der andere. Der Kriminalbeamte eilte zum Ortsgendarm und veranlaßte die sofortige Verhaftung der kämpfenden Strolche. Diese gestanden sehr bald, die alte Dame in jener Nacht ermordet und beraubt zu haben. Der Student wurde selbstverständlich sofort in Freiheit gesetzt und im Wiederaufnahmeverfahren freigesprochen.

      In dem im Kreise Halberstadt belegenen Städtchen Kroppenstedt arbeitete eines Nachts, im Oktober 1869, der fünfzehnjährige Müllerlehrling Ernst Günther in der außerhalb der Stadt belegenen Windmühle seines Meisters. Der Meister befand sich mit seiner Gattin bei einer Hochzeitsfeier. Plötzlich wurden die Bewohner Kroppenstedts durch Feuersignale aus dem Schlaf geweckt. Die Mühle stand in Flammen. Als die Feuerwehr heranrückte, sah sie einen dunkeln größeren Gegenstand aus der brennenden Mühle zur Erde fallen. Dieser Gegenstand war der erwähnte Müllerlehrling. Er lag mit einem Knebel im Munde und die Hände auf den Rücken gebunden, bewußtlos auf der Erde. Er wurde sogleich in die Wohnung seines Meisters getragen. Es wurde schleunigst ein Arzt herbeigerufen. Aber erst am folgenden Morgen kam der junge Mann so weit zum Bewußtsein, daß er vernommen werden konnte. Er erzählte dem Bürgermeister: Er habe, da es Wind war, des Nachts allein in der Mühle gearbeitet. Da plötzlich habe es an der Mühlentür geklopft und eine barsche Stimme habe gerufen: »Na mag man upp.« Er habe sich geweigert, zu öffnen. Die Tür sei jedoch sogleich mit Gewalt aufgebrochen worden, und zwei vermummte Männer, die Gesichter mit Ruß geschwärzt, haben vor ihm gestanden. Sie haben ihm gedroht, ihn sofort niederzustechen, wenn er auch nur einen Laut von sich gebe. Schreien hätte ihm auch nichts genützt, denn die Mühle stand, entfernt von der Stadt, einsam auf freiem Felde. Die Männer haben Getreide zusammengerafft, in Säcke geschüttet, alsdann ihn gefesselt, einen Knebel in den Mund gesteckt und darauf die Mühle in Brand gesetzt. Er habe sich, obwohl gefesselt und geknebelt, an die von den Räubern offengelassene Tür geschleift und sich zur Erde fallen lassen, um dem Feuertode zu entgehen. Und in der Tat, die Kleider des jungen Mannes fingen, als ihn die Feuerwehr auffand, schon an zu brennen. Auf die Frage des Bürgermeisters, ob er die vermummten Männer erkannt habe, sagte der junge Mann: Den Kleineren habe er genau erkannt, das war der Mühlknappe Schrader. Dieser trug eine rotweißkarierte Barchentjacke; den Größeren konnte er nicht erkennen. Der Bürgermeister eilte mit zwei Polizeibeamten in die Wohnung des Schrader. Dieser, vom Bürgermeister nach der rotweißkarierten Barchentjacke gefragt, leugnete in der ersten Bestürzung, eine solche Jacke zu besitzen. Eine sofort vorgenommene Haussuchung ergab jedoch den Besitz einer rotweißkarierten Barchentjacke. Schrader wurde sofort gefesselt und verhaftet. Es ergab sich auch, daß Schrader bei dem Müllermeister vor einiger Zeit beschäftigt und wegen einer Lohndifferenz entlassen worden war. Schrader, ein vollständig unbescholtener Mann, der sich in Kroppenstedt des besten Leumunds erfreute, beteuerte seine Unschuld. Da aber der Müllerlehrling ihn fortgesetzt mit vollster Bestimmtheit als einen der Männer bezeichnete, der ihn an jenem Abend in der Mühle geknebelt und gefesselt und alsdann die Mühle in Brand gesteckt hatte, so ließ der damalige Erste Staatsanwalt des Halberstädter Kreisgerichts den »verstockten Verbrecher« dreizehn volle Wochen in doppelte Eisen legen. Schrader, dessen Frau und fünf kleine Kinder buchstäblich Hunger litten, da ihnen der Ernährer fehlte, war jedoch trotz der erwähnten Folter zu einem Geständnis nicht zu bewegen. Es wurde die Anklage wegen versuchten Mordes, Einbruchsdiebstahls und vorsätzlicher Brandstiftung gegen ihn erhoben. Die Geschworenen sprachen ihn in vollem Umfange der Anklage schuldig, der Gerichtshof verurteilte ihn darauf zu 15 Jahren Zuchthaus, 10 Jahren Ehrverlust und Stellung unter Polizeiaufsicht.

      Nach etwa 7 Jahren, an einem kalten Wintertage des 1. Dezember 1876 trat am Breiten Weg in Magdeburg ein junger Mann an einen Schutzmann mit den Worten heran: »Herr Wachtmeister, verhaften Sie mich.« Der Schutzmann glaubte, einen Irrsinnigen vor sich zu haben. »Bitte, verhaften Sie mich, Herr Wachtmeister,« wiederholte der junge Mann, da der Schutzmann zögerte, »ich bin der ehemalige Müllerlehrling Ernst Günther aus Kroppenstedt. Im Oktober 1869 habe ich meinem Meister zwei Metzen Getreide entwendet und verkauft. Aus Angst, bestraft zu werden, habe ich mich selbst geknebelt und gefesselt und vorher die Mühle in Brand gesteckt. Die Geschichte mit den zwei vermummten Männern habe ich erfunden. Den Mühlknappen Schrader habe ich fälschlich beschuldigt, er ist vollständig unschuldig. Ich bin inzwischen Geselle und 22 Jahre alt geworden. Ich habe fast ganz Deutschland durchwandert, ich kann aber nirgends Ruhe finden. Das grinsende Gesicht des armen Mühlknappen Schrader, der schon seit sieben Jahren infolge meiner Aussage unschuldig im Zuchthause sitzt, verfolgt mich Tag und Nacht. Ich will, daß der arme Schrader sofort freigelassen und ich bestraft werde.« Bei dieser Erzählung weinte der junge Mann heftig. Der Schutzmann führte den jungen Menschen zur nächsten Polizeiwache. Dort wiederholte Günther vor dem Polizeileutnant das Geständnis. Günther wurde nach Halberstadt transportiert. Dem noch amtierenden Ersten Staatsanwalt war diese Nachricht begreiflicherweise sehr fatal. Er sagte: »Der Müllergeselle hat jedenfalls keine Arbeit und möchte gern für den Winter ein unentgeltliches Unterkommen haben. Wir werden den Kerl sitzen lassen, bis ihm die Frühlingssonne in die Zelle scheinen wird, dann wird er seine Aussage schon widerrufen.« Der Vorgang rief begreiflicherweise in der ganzen Kulturwelt eine furchtbare Erregung hervor. Schrader wurde aus dem Zuchthause entlassen, er war aber ein an Geist und Körper vollständig gebrochener Mann. In ganz Deutschland wurden zu seinen Gunsten Wohltätigkeitsvorstellungen veranstaltet, so daß ihm einige tausend Mark gegeben werden konnten. Günther hielt trotz aller Vorhaltungen sein Geständnis voll aufrecht. Es wurde deshalb wegen vorsätzlicher Brandstiftung und wissentlich falscher Anschuldigung die Anklage gegen ihn erhoben. Er hatte sich Ende Mai 1877 vor der Kriminaldeputation des Halberstädter Kreisgerichts zu verantworten. Da er zur Zeit der Tat erst 15 Jahre alt war, konnte er vor ein Schwurgericht nicht gestellt werden. Er erzählte auf Befragen des Vorsitzenden: Ein Mann habe ihn an jenem Abend verleitet, seinem Meister zwei Metzen Getreide zu stehlen und ihm zu verkaufen. Nachdem der Mann sich entfernt hatte, habe er Furcht gehabt, der Meister könnte den Diebstahl merken und ihn bestrafen lassen. Deshalb habe er die Mühle in Brand gesetzt, sich alsdann einen Knebel in den Mund gesteckt und selbst gefesselt. Er habe, ehe er Müller wurde, ein halbes Jahr Posamentier gelernt, er verstehe es daher, sich selbst zu fesseln. Um nun dem Feuertode zu entgehen, habe er sich an die Tür der Mühle geschleift, diese mit dem Fuß geöffnet und sich hinabfallen lassen. Als am anderen Morgen der Bürgermeister ihn vernahm, habe er die diesem gemachte Erzählung erfunden, und als der Bürgermeister ihn fragte, ob er einen der Männer erkannt habe, da sei ihm gerade Schrader, von dem er wußte, daß er oftmals eine rotweißkarierte Barchentjacke getragen habe, eingefallen.

      Als Schrader als Zeuge den Gerichtssaal betrat, begann Günther laut zu weinen. Er fiel auf die Knie und rief: »Guter Herr Schrader, Sie haben durch meine Schuld sieben Jahre unschuldig im Zuchthause gesessen, ich bitte tausendmal um Verzeihung.« Schrader, ein kleiner, ganz gebückt gehender Mann, mit durchfurchtem, gramerfülltem Gesicht, weinte ebenfalls bitterlich. Günther wurde zu zehn Jahren Gefängnis verurteilt, Schrader bald darauf im Wiederaufnahmeverfahren freigesprochen.

      Ich habe der Verhandlung gegen Günther zur Zeit als Berichterstatter beigewohnt und nahm hierbei Veranlassung, mit Schrader zu sprechen. Dieser sagte zu mir: »Sie können sich keinen Begriff machen, wie einem Menschen zumute ist, der unschuldig auf 15 Jahre ins Zuchthaus gesperrt wird, ohne die geringste Aussicht zu haben, daß seine Unschuld jemals an den Tag kommen wird.« Wenige Monate darauf ist Schrader gestorben. Seine Frau war, während er im Zuchthause saß, aus Gram gestorben. Die Kinder waren im Waisenhause untergebracht.

      Im Juni 1895 fand eines Sonntags in Baukau bei Herne eine vom christlichen Bergarbeiterverband einberufene öffentliche Bergarbeiterversammlung statt, in der der jetzige Landtagsabgeordnete Brust (Zentrum) den Vorsitz führte. In dieser Versammlung erschienen auch einige sozialdemokratische Bergarbeiter, unter diesen die »Kaiserdelegierten« Schröder, Bunte und Siegel. Diese drei wurden im Sommer 1889 aus Anlaß eines sehr umfangreichen Bergarbeiterausstandes im rheinisch-westfälischen Industriebezirk vom Kaiser im Königlichen Schloß zu Berlin empfangen. In


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