Zwangsvollstreckungsrecht, eBook. Alexander Bruns
Sache an das Berufungsgericht zurückverwiesen, so lebt die erstinstanzliche Entscheidung bis zu einer neuen Entscheidung wieder in all ihren Teilen auf, also auch hinsichtlich ihrer vorläufigen Vollstreckbarkeit[69].
IV. Vollstreckung aus vorläufigen Titeln
15.38
Aus einem für vorläufig vollstreckbar erklärten Urteil kann die Zwangsvollstreckung in der gleichen Weise betrieben werden wie aus einem rechtskräftigen Urteil.
1. Wirkungen und Beschränkungen der Vollstreckung
15.39
Die Zwangsvollstreckung hat grundsätzlich auch die gleichen prozessualen Wirkungen wie beim rechtskräftigen Urteil. Sie führt nicht nur zur Sicherung, sondern auch zur Befriedigung des Gläubigers. Befriedigung bedeutet, dass die Zwangsvollstreckung ihren Zweck erfüllt hat und damit beendet ist. Von der Befriedigungswirkung ist die materiellrechtliche Frage der Erfüllungswirkung zu unterscheiden. Sie steht unter dem Vorbehalt, dass das Bestehen der Schuld rechtskräftig festgestellt wird[70] – was auch gilt, wenn erkennbar zur Abwendung der Vollstreckung aus vorläufigen Titeln geleistet wird[71]. Wollte man anderes annehmen, so würde die Leistung den Rechtsstreit trotz fortdauernden Verfahrens erledigen – ein nicht haltbares Ergebnis.
Zu beachten ist aber – praktisch besonders wichtig –, dass die Wirkungen der vorläufigen Vollstreckbarkeit beschränkter sind, wenn dem Schuldner gemäß §§ 711 S. 1, 712 Abs. 1 S. 1 gestattet war, die Zwangsvollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung abzuwenden. Dann darf nämlich die Zwangsvollstreckung nicht zu einer Befriedigung des Gläubigers führen: Gepfändetes Geld oder der Erlös gepfändeter Gegenstände ist dem Gläubiger nicht auszuhändigen, sondern zu hinterlegen (§ 720); die Überweisung gepfändeter Geldforderungen findet dann nicht an Zahlungs statt, sondern nur zur Einziehung mit der Wirkung statt, dass der Drittschuldner den Schuldbetrag zu hinterlegen hat (§ 839; Rn. 30.30). Genügend ist hierbei die bloße Aufnahme der Abwendungsbefugnis ins Urteil, gleichgültig, ob der Schuldner von ihr durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung Gebrauch macht[72]. Denn weist der Schuldner die geschehene Sicherheitsleistung oder Hinterlegung nach, so hat das jeweils zuständige Vollstreckungsorgan die Zwangsvollstreckung sogar völlig einzustellen (§ 775 Nr. 3) und bereits getroffene Vollstreckungsmaßregeln aufzuheben (§ 776). Nur wenn der Gläubiger in Ausübung eines Gegenvorbehalts im Falle des § 711 seinerseits tatsächlich Sicherheit leistet, kann er die Zwangsvollstreckung uneingeschränkt betreiben[73].
Nur zu einer Sicherung des Gläubigers führt auch die Sicherungsvollstreckung (§ 720a), die dem Gläubiger noch geringere Befugnisse gewährt (Rn. 15.23).
2. Beendigung der vorläufigen Vollstreckbarkeit
15.40
Die vorläufige Vollstreckbarkeit tritt außer Kraft, sobald ein Urteil der Rechtsmittelinstanz die Entscheidung in der Hauptsache oder die Vollstreckbarkeitserklärung aufhebt oder abändert, natürlich nur insoweit, wie die Aufhebung oder Abänderung reicht (§ 717 Abs. 1). Das Außerkrafttreten erfolgt bereits im Zeitpunkt der Urteilsverkündung (vgl. § 310), nicht erst später mit Eintritt der Rechtskraft (Rn. 14.5). Es macht keinen Unterschied, ob das vorläufig vollstreckbare Urteil aus materiell-rechtlichen oder aus prozessualen Gründen aufgehoben wird[74].
Sicherheiten, die der Schuldner zur Abwendung der Vollstreckung geleistet hat, sind zurückzugeben (§ 109), ohne dass eine rechtskräftige Entscheidung über die Klage abzuwarten wäre; denn die Sicherheit galt nicht dem Klaganspruch, sondern der – fortgefallenen – vorläufigen Vollstreckbarkeit[75].
15.41
Wird dagegen das vorläufig vollstreckbare Urteil rechtskräftig, dann fallen von selbst die Schranken fort, die in der nur vorläufigen Vollstreckbarkeit des Urteils ihren Grund haben.
Fort fällt z.B. die Befugnis des Schuldners, die Zwangsvollstreckung aus dem vorläufig vollstreckbaren Urteil abwenden zu können[76]; vielmehr kann jetzt der Gläubiger auf die Sicherheit zugreifen (z.B. Inanspruchnahme des Bürgen nach Rechtskraft des Wechselvorbehaltsurteils).
V. Schadensersatz bei ungerechtfertigter Vollstreckung
15.42
Erweist sich im weiteren Fortgang des Rechtsstreits die Zwangsvollstreckung aus einem nur vorläufig vollstreckbaren Urteil als voreilig, so trägt der Gläubiger das Risiko dafür, dass er mit der Zwangsvollstreckung nicht bis zur endgültigen Klärung der Rechtslage abgewartet hat. Wird nämlich das für vorläufig vollstreckbar erklärte Urteil aufgehoben oder abgeändert, so ist der Gläubiger zum Ersatz des Schadens verpflichtet, der dem Schuldner durch die Vollstreckung des Urteils oder durch eine zur Abwendung der Vollstreckung gemachte „freiwillige“ Leistung entstanden ist (§ 717 Abs. 2). Ist in einer vermögensrechtlichen Streitigkeit aus einem kontradiktorischen Urteil eines Oberlandesgerichts vollstreckt worden, besteht allerdings statt der Pflicht zum vollen Schadensersatz nur eine Pflicht zur Herausgabe der dem Gläubiger im Zuge der Vollstreckung zugeflossenen Bereicherung (§ 717 Abs. 3).
Der Grund für diese Privilegierung der oberlandesgerichtlichen Urteile ist der gleiche wie schon in § 708 Nr. 10: zum einen sollen nach Möglichkeit Revisionen vom BGH ferngehalten werden; zum anderen bieten diese Urteile eine größere Gewähr für ihre sachliche Richtigkeit, sodass sich ein Gläubiger eher auf ihre „Haltbarkeit“ soll verlassen dürfen.
1. Voraussetzungen der Ersatzpflicht
15.43
Voraussetzung des Schadensersatz- bzw. Bereicherungsanspruches ist die Zwangsvollstreckung des Gläubigers aus einem vorläufig vollstreckbaren Urteil, das dann der Nachprüfung in den Rechtsmittelinstanzen nicht Stand gehalten hat.
a) Aufhebung oder Abänderung der Hauptsacheentscheidung in der Rechtsmittelinstanz
15.44
Erforderlich ist stets, dass das für vorläufig vollstreckbar erklärte Urteil in der Hauptsache aufgehoben oder abgeändert wird. Anders als für § 717 Abs. 1 genügt eine Aufhebung oder Abänderung nur des Ausspruchs über die vorläufige Vollstreckbarkeit nicht[77].
Gleichgültig ist dagegen, ob die Aufhebung oder Abänderung des Urteils wegen Unzulässigkeit[78] oder Unbegründetheit des vollstreckten Anspruchs erfolgt, ebenso ob nur das Verfahren oder auch die Rechtsanwendung selbst[79] nicht die Billigung des Obergerichts findet[80]. Ausreichend ist auch eine Aufhebung, der nicht die eigene Entscheidung des Rechtsmittelgerichts, sondern lediglich eine Zurückverweisung in die untere Instanz oder die Verweisung an das zuständige Gericht folgt[81].
§ 717 Abs. 2 knüpft seinem Wortlaut nach an die bloße Tatsache der Urteilsaufhebung an, nicht daran, ob die Vollstreckung der materiellen Rechtslage zuwider lief[82]. Aber es ist zu beachten, dass die Schadensersatz- bzw. Herausgabepflicht des Gläubigers erlischt, wenn das aufhebende Urteil später selbst wieder aufgehoben, das zur Vollstreckung gelangte Urteil also wiederhergestellt wird[83], oder wenn der Schuldner ohne Wiederherstellung des aufgehobenen Urteils rechtskräftig verurteilt wird[84]. Hierfür genügt auch eine Aufhebung des „Aufhebungsurteils“ durch einen Vergleich[85]. Auch wenn die Aufhebung des vorläufig vollstreckbaren Urteils auf Einwendungen beruht, die erst nach seinem Erlass bzw. nach seiner Vollstreckung entstanden sind, hat der Schuldner keine Ansprüche aus § 717[86].