Die Vampirschwestern – Bissgeschick um Mitternacht. Franziska Gehm
sagen, meine Töchter, mein eigen Fleisch und Blut, meine Silvania und meine Daka, denen ich eigenhändig eine Zwillingssargwiege gezimmert habe, die ich mit Frischblutfläschchen gefüttert habe, deren Milcheckzähne ich stets bei mir trage, denen ich das Fliegen und Flopsen beigebracht habe, könnten Menschen werden?“
„Ich verstehe Ihre Besorgnis. Natürlich ist das furchtbar, wenn sich die eigenen Kinder über Nacht in eine Mahlzeit verwandeln.“ Dr. Chivu versuchte sich einen Moment in seinen Gesprächspartner hineinzuversetzen. „Andererseits, Sie sind mit einer Mahlzeit verheiratet. Also sind Sie an der ganzen Situation nicht ganz unschuldig, mein Bester. Wie dem auch sei – vielleicht haben Sie ja Glück und Ihre Töchter verwandeln sich nicht in Menschen, sondern in richtige Vampire. Das weiß man allerdings vorher nie. Ich habe in den Schriften keinen Hinweis darauf gefunden, dass sich das irgendwie beeinflussen lässt.“
„Was haben Sie in den Schriften denn überhaupt noch gefunden?“, schnaufte Herr Tepes, dem die drei Mahlzeiten, die es womöglich bald in seiner Familie gab, auf den Magen geschlagen hatten.
„Es wurde allerdings mehrfach ein Ritual erwähnt. Dessen genaue Einhaltung scheint ungeheuer wichtig zu sein“, erklärte Liviu Chivu. „Am letzten Abend des 13. Lebensjahres muss eine Person des Vertrauens – aber auf keinen Fall die Eltern – die Halbvampire an einem streng geheimen Ort kopfüber aufhängen. Dann muss diese Person die Halbvampire fest in eine Lamadecke einwickeln, bis sie umhüllt sind wie in einem Kokon. Die Person des Vertrauens überlässt die Halbvampire nun allein ihrem Schicksal. In den folgenden Stunden beginnt die Verpuppung. Am nächsten Morgen, wenn das 13. Lebensjahr vollendet ist, haben sich die Halbvampire zu ihrer endgültigen Gestalt gewandelt. Von da an gehen sie als Menschen durchs Leben oder, wenn sie Glück haben, fliegen sie als Vampire.“
„Und es gibt wirklich keine Möglichkeit, wie man diesen Prozess beeinflussen oder aufhalten kann?“, fragte Herr Tepes.
„Handeln Sie nicht unüberlegt, mein Bester“, erwiderte Dr. Chivu. „Ich rate Ihnen eindringlich, sich genauestens an das beschriebene Ritual zu halten. Alles andere wäre ein zu großes Risiko. Spielen Sie nicht mit dem Glück und Seelenfrieden Ihrer Töchter! Sonst haben die beiden womöglich ein ganzes Leben lang mit Oberlippenbärten, Einzelbrüsten und anderen … wie nannten Sie es doch gleich? Ach ja, mit hormonellen Haudegen zu kämpfen. Und das wollen Sie Ihren Töchtern doch nicht antun, oder?“
Post blitz!
In der Großstadt Bindburg brach ein neuer Morgen an. Obwohl die ersten Sonnenstrahlen gerade erst über den östlichen Horizont krochen, waren die meisten Bewohner der Stadt schon lange wach und auf den Beinen. Elvira Tepes schloss gerade die Ladentür ihres Klobrillengeschäfts auf und drehte das „Besetzt-Schild“ um, das in der Tür hing, sodass jetzt „Frei“ darauf zu lesen war.
Silvania und Daka Tepes betraten zur gleichen Zeit mit Helene und Ludo einen Unterrichtsraum der Gotthold-Ephraim-Lessing-Schule. Sie setzten sich auf ihre Plätze und blieben dort wie versteinert sitzen. Sie achteten auf jede Regung, jedes Blubbern und jedes Zwicken in ihren Körpern. Alle paar Sekunden musterten sie einander prüfend. Zwar hatten sich seit der vergangenen Nacht weder neue Brüste noch neue Haarbüschel gezeigt, aber die Schwestern waren auf der Hut. Beim kleinsten Anzeichen einer körperlichen Veränderung würden sie sich zur Tür flopsen und sich im Mädchenklo verschanzen. Sollte Ludo eine Brust oder einen Achselhaardschungel voraussehen, würde er sie rechtzeitig warnen.
Herr Tepes setzte soeben in seinem flaschengrünen Dacia den Blinker und reihte sich in den Verkehr auf der Ringelnatzstraße ein, die an der Gotthold-Ephraim-Lessing-Schule vorbeiführte. Er hatte seine Töchter zur Schule gebracht. Am liebsten wäre er mit ihnen gemeinsam zur Schule geflogen, wie Väter das in Transsilvanien taten. Denn wenn man der Aussage von Dr. Liviu Chivu glauben durfte, war fraglich, wie lange seine Töchter überhaupt noch fliegen konnten.
Bis jetzt hatte er nur seiner Frau von Dr. Chivus Anruf und dessen Diagnose erzählt. Er wollte seine Töchter nicht noch mehr durcheinanderbringen, als sie sowieso schon waren. Am Nachmittag würde noch genügend Zeit sein, ihnen von der bevorstehenden Verpuppung zu erzählen.
Mihai Tepes legte eine Kassette mit transsilvanischen Heimatliedern in den Rekorder, drehte auf volle Lautstärke und kurbelte das Fenster herunter, damit seine deutschen Mitmenschen auch in diesen musikalischen Hochgenuss kamen. Dann schaltete er in den zweiten Gang und tuckerte mit 30 Kilometern pro Stunde Richtung Einkaufszentrum. Er wollte sich nach Lamadecken umsehen. Dafür opferte er sogar seinen wertvollen Schlaf.
Rose Wagenzink – die Mihais Schwiegermutter, Elviras Mutter und die Oma der Vampirschwestern war – schloss gerade mit einer Schüssel Limette-Meerrettich-Lavendel-Paste auf dem Arm die Tür des letzten Hauses im Lindenweg auf. Dort wohnte ihre Tochter mit dem Vampir ihrer Träume und den Zwillingen. Elvira hatte ihrer Mutter am Abend am Telefon vom Riesenremmidemmi erzählt, das die Hormone bei Silvania und Daka veranstalteten. Daraufhin war Oma Rose das Limette-Meerrettich-Lavendel-Paste-Rezept wieder eingefallen. Angeblich half diese Paste bei Hormonproblemen aller Art, besonders bei jungen Menschen. Ob sie auch bei jungen Halbvampiren half, wusste Oma Rose noch nicht. Aber schaden würde die Paste sicher nicht.
Oma Rose war an diesem Morgen nicht die einzige Oma, die unterwegs in den Lindenweg war. Doch während Oma Rose im Anmarsch war, war die andere Oma der Vampirschwestern im Anflug. Hoch über Bindburg, mit einem langen dunkelblauen Kleid, einem Schirm am linken Arm und einer großen Sonnenbrille auf der Nase, schwebte sie heran: Zezcilia Morta Dentiba Tepes.
Durch ihren kurz entschlossenen und etwas übereilten Abflug von Stumpbjergen kam sie früher als erwartet in Bindburg an. Ihr Sohn und ihre Schwiegertochter rechneten erst am späten Nachmittag mit ihrer Landung.
Oma Zezci hatte bereits ein paar Runden über Bindburg gedreht. Durch ihre zahlreichen Reisen und Aufenthalte an goldgelben Stränden war sie immer sonnenscheinunempfindlicher geworden. Außerdem hatte sie natürlich stets eine Tube Sonnencreme mit Lichtschutzfaktor 250 bei sich. Doch obwohl Oma Zezci schon weit in der Welt herumgekommen war, war sie zum ersten Mal zu Besuch in der Heimat ihrer Schwiegertochter. Was sie bis jetzt von der Stadt gesehen hatte, gefiel ihr recht gut. Im Norden der Stadt lag ein kleiner Gebirgszug, an dessen Fuße herrlich finstere Tannen wuchsen. Mitten durch die Stadt floss ein dunkler, breiter Fluss. Im Süden der Stadt prangte auf einem kleinen Hügel ein mittelalterliches Schloss und im Zentrum auf dem Marktplatz stand ein Rathaus mit fünf hohen Türmen und einer Ritterstatue. Im ganzen Stadtzentrum wimmelte es nur so von gut genährten, zweibeinigen Blutträgern.
Mittlerweile hatte Oma Zezci das Stadtzentrum hinter sich gelassen und flog gerade über die Reihenhäuser im Lindenweg. Ein junger Mann schob einen Kinderwagen und ein Postbote einen Briefwagen. Sonst war die Reihenhaussiedlung wie ausgestorben. Die meisten Bewohner waren schon in der Schule, bei der Arbeit oder beim Arbeitsamt. Der Mann mit dem Kinderwagen verschwand im Eingang der U-Bahnstation. Der Postbote kramte gerade in einer der prallen Brieftaschen. Oma Zezci ging zum Sinkflug über. Zwei Meter über dem Postboten verharrte sie in der Luft. „Skyzati“, sagte sie so freundlich wie möglich. „Haben Sie zufällig Post für Familie Tepes?“
Der Postbote zuckte zusammen und sah nach oben. Beim Anblick der fliegenden Oma machte er ein Gesicht, als hätte er einen riesengroßen Poststempel abbekommen.
„Ich könnte sie gleich mitnehmen. Sie wissen ja, Luftpost geht schneller“, fuhr Oma Zezci fort.
„Luftpost“, hauchte der Postbote. Dann rollte er die Augen mehrmals im Kreis, danach den Kopf und schließlich taumelte sein ganzer Oberkörper. Wie ein Kreisel eierte er noch zwei, drei Mal herum, bis er schließlich auf dem Briefwagen zusammenklappte.
„Fledermäuse sind einfach die zuverlässigeren Briefträger“, stellte Oma Zezci fest. In dem Moment fiel ihr Blick auf den Nacken des Briefträgers. Sie fuhr sich mit der Zunge über die Eckzähne. Seit ihrem Abflug von Stumpbjergen hatte sie nur eine Kurzschnabelgans und eine Lachmöwe zwischen die Zähne bekommen. So ein kleiner Briefträger als zweites Frühstück wäre nicht zu verachten.
Oma Zezci beugte sich über den bewusstlosen Briefträger. Ihre Nasenflügel bebten, als ihr der Geruch von Aftershave, Angstschweiß