Satan und Ischariot I. Karl May
wir seit Vormittag förmlich geschmort hatten. Die Beschreibung des Weges, nach welcher ich mich richtete, ließ mich keinen Augenblick im Stiche, nur daß die Zeit viel zu kurz angegeben gewesen war. Wir erreichten zwei Stunden vor Abend den kleinen See, in welchen der Arroyo mündete. Da sah ich wieder einmal, was Indianer auszuhalten vermögen. Die beiden Knaben waren nicht ein einziges Mal hinter mir zurückgeblieben, und nichts ließ vermuten, daß sie durch die weite Fußtour angegriffen seien. Ich wäre wohl gern am Bache abgestiegen, um einen kühlen Trunk zu thun, wenn ich mich nicht hätte vor ihnen schämen müssen, die keinen Blick für die glitzernden Wellen und kein Ohr für das liebe Rauschen derselben zu haben schienen.
Der See lag am untern Ende eines dichtbewaldeten Thales, welches sich weiter aufwärts ansehnlich verbreiterte, bis man wohl eine halbe Stunde zu gehen hatte, um von einer Seite nach der andern zu kommen. Hüben und drüben vom Walde eingefaßt, bildete es eine saftig grüne Wiese, deren Gras- und Blumenteppich oft durch blühendes Buschwerk unterbrochen wurde. Hier weideten zahlreiche Rinder und Pferde, welche von berittenen und unberittenen Hirten bewacht wurden, doch sah man gleich mit dem ersten Blicke, daß dieser Leute nicht genug vorhanden waren. Sie kamen herbei, uns freundlich zu begrüßen, und ich erfuhr von ihnen, daß Melton mit seiner Arbeiterkarawane noch nicht angekommen sei. Meine frühere Ankunft war übrigens gar kein Wunder, da der
Marsch des Mormonen wegen der schweren Wagen nur ein langsamer sein konnte.
Weiter oben hörten die Weiden auf, um Feldern Platz zu machen. Ich sah Baumwolle und Zuckerrohr in langen, breiten Pflegen stehen. Dazwischen gab es Indigo, Kaffee, Mais und Weizen, doch das alles in einem Zustande, welcher erkennen ließ, daß es an Arbeitshänden mangelte. Dann kam ein großer Garten, in welchem alle Obstbäume Europas und Amerikas vertreten waren, aber ein sehr verwildertes Aussehen hatten, so daß es einem fast wehe thun mochte. Und als wir an diesem Garten vorüber waren, sahen wir endlich die Gebäude der Hazienda vor uns liegen.
Die größeren Hazienden und Estanzien sind in jenen Gegenden wegen der Unsicherheit der dortigen Verhältnisse meist festungs- oder fortähnlich angelegt. Wo es genug Steine giebt, umschirmt man die Wohnungen mit einer Mauer, welche etwaige Angreifer nicht zu übersteigen vermögen. Ist dieses Material nicht vorhanden, so legt man dicke und dichte Zäune von Kakteen und anderen Stachelpflanzen an, welche man so hoch wie möglich wachsen läßt und gewöhnlich auch für ihren Zweck erfüllend hält. Ein intelligenter Angreifer aber wird einen solchen Zaun keineswegs für ein unbesiegbares Hindernis ansehen.
Die Hazienda del Arroyo lag im Gebirge; es waren also so viele Steine vorhanden, daß ich mich eigentlich eines falschen Ausdruckes bedient habe, als ich sagte, wir hätten die Gebäude der Hazienda vor uns liegen sehen. In Wirklichkeit sahen wir nur das platte Dach des Hauptgebäudes, während alles andere hinter einer Mauer verborgen lag, welche eine Höhe von wenigstens 5 Meter hatte. Sie schloß ein großes, regelrechtes Viereck ein, dessen Seiten genau nach den vier Himmelsrichtungen lagen. Dieses Viereck wurde von dem Bache in der Weise durchflossen, daß er unter der nördlichen Mauer hereintrat und die Hazienda unter der südlichen wieder verließ. Wie ich später sah, stand das aus dem Parterre und einem Stockwerke bestehende Hauptgebäude ziemlich in der Mitte hart an dem Bache, über welchen nach Westen hin, wo sich das große Thor in der Mauer befand, eine Brücke führte. Außerdem gab es innerhalb der Mauer kleinere Häuschen, in denen die jetzigen Bediensteten wohnten und die zu erwartenden Arbeiter untergebracht werden sollten, ein niedriges, langgestrecktes Magazin zur Aufnahme der Feld- und Gartenfrüchte und mehrere offene Schuppen, welche nur aus hölzernen Säulen und den auf denselben ruhenden Dächern bestanden, unter denen die gefährdeten Tiere bei einem etwaigen Ueberfalle innerhalb der Mauern untergebracht werden sollten. Das große Thor bestand aus sehr starkem Holze und war innen und außen mit Eisenblech beschlagen.
Da wir von Süden kamen, mußten wir um die südwestliche Ecke des Mauerquadrates biegen und der westlichen Seite entlang reiten, bis wir an das Thor gelangten. Die beiden Flügel desselben standen offen, so daß uns nichts hinderte, in den Hof zu gelangen. Derselbe machte trotz der Gebäude, welche dastanden, den Eindruck der Einsamkeit, der Leere. Es gab eben auf der Hazienda nicht so viel Personen, wie eigentlich notwendig waren. Unsere Augen trafen keinen Menschen.
Wir stiegen ab. Ich gab mein Pferd dem einen Indianerknaben zum halten und wendete mich nach der Brücke, um in das Herrenhaus zu gehen. Eben als ich die Brücke überschritt, wurde die Hausthüre geöffnet und in derselben erschien ein Mann, dessen aufgedunsenes, blatternarbiges Gesicht keinen angenehmen Eindruck auf mich machte. Ich besitze gar kein Vorurteil gegen Blatternarben; sie gereichen dem Gesicht nicht zur Zierde, das ist wahr, aber der beste Mensch kann an den Blattern erkrankt gewesen sein. Hier jedoch bildeten die Narben den letzten Ton im vielstimmigen Mißakkorde. Das Gesicht wäre auch ohne sie abstoßend gewesen. Der Mann sah mich von oben her an und rief mir zu:
»Bleib‘ stehen! Ueber die Brücke dürfen nur Caballeros. Was willst du hier?«
Ich ging trotz dieser Worte weiter. Als ich die Brücke hinter mir hatte und nun vor ihm stand, antwortete ich:
»Ist Sennor Timoteo Pruchillo daheim?«
»Sennor! Er wird Don genannt. Das magst du dir merken. Den Titel Sennor führe ich. Ich bin nämlich Sennor Adolfo, der Major domo dieser Hazienda. Es ist mir alles unterthan.«
»Auch der Haziendero?«
Er wußte nicht gleich, wie er antworten sollte, warf mir einen vernichtend sein sollenden Blick zu und sagte:
»Ich bin seine rechte Hand, der Ausfluß seiner Gedanken und die Verkörperung seiner Wünsche. Also er ist Don und ich bin Sennor. Verstanden?«
Ich gestehe, daß ich große Lust verspürte, grob zu werden; aber die Rücksicht auf die Verhältnisse und meine alte Gutmütigkeit veranlaßten mich zu den im höflichsten Tone gesprochenen Worten:
»Ganz wie Sie befehlen, Sennor. Wollen Sie also die Güte haben, mir mitzuteilen, ob Don Timoteo zu Hause ist?«
»Er ist da!«
»Und also wohl auch zu sprechen?«
»Nein; für solche Leute nicht. Wenn du eine Bitte hast, so bin ich allein der Mann, dem du sie vorzutragen hast. Sage mir also endlich, was du willst.«
»Ich bitte für diese Nacht um ein Obdach für mich und die drei indianischen Geschwister, mit denen ich gekommen bin.«
»Obdach? Wohl gar auch Essen und Trinken? Das fehlte noch! Da draußen, jenseits der Grenzen der Hazienda, giebt es Platz genug für solches Gesindel; macht euch schleunigst fort, und zwar nicht nur aus den Mauern hinaus, sondern auch über unsere Grenze hinüber! Ich werde einem Hirten befehlen, euch zu folgen und euch augenblicklich niederzuschießen, wenn ihr Miene macht, euch diese Nacht innerhalb unserer Besitzung aufzuhalten!«
»Das ist hart, Sennor! Bedenken Sie, daß in wenigen Minuten der Abend hereinbrechen wird und wir dann – —«
»Schweig!« unterbrach er mich. »Du bist zwar ein Weißer, aber man sieht dir doch augenblicklich an, welch ein Subjekt du bist. Und nun gar die Roten! Unsere Hazienda ist keine Herberge für Räuberbanden!«
»Gut, ich gehe, Sennor. Ich habe noch gar nicht gewußt, daß ich so ein Spitzbubengesicht besitze, und Sennor Melton, welcher mir die Stelle des Tenedor de libros auf dieser Hazienda zugesagt hat, ist wohl schwerlich der Meinung gewesen, daß dieses Engagement für Sie so gefährlich ist.«
Ich drehte mich um und schritt langsam über die Brücke zurück. Da rief er mir nach:
»Sennor Melton? Tenedor de libros! Um des Himmels willen, wo wollen Sie denn hin? Bleiben Sie doch! Kommen Sie – kommen Sie!«
Und als ich dieser Aufforderung nicht Folge leistete, sondern weiter ging, kam er mir nachgesprungen, ergriff meinen Arm, hielt mich fest und versicherte mir:
»Wenn Sennor Melton Sie schickt, so darf ich Sie nicht fortlassen. Sie geben wohl zu, daß ihr Anzug kein Vertrauen erwecken kann, und wenn Sie sich nur einmal genau im Spiegel betrachten wollten, so würden Sie unbedingt einsehen, daß Ihr Gesicht sehr verschieden von demjenigen eines ehrlichen Menschen ist; doch Kleider sind zuweilen nicht maßgebend, und es mag ja auch einmal vorkommen, daß ein Mann mit einem Diebesgesicht noch nicht