Der Waldläufer. Gabriel Ferry
beugte sich über die Ringmauer hinaus und rief: »Tiburcio! Tiburcio!« Aber ihre Stimme verlor sich in der Nacht, ohne daß der sie einer Antwort würdigte, an den sie sich gewandt hatte – er entfernte sich raschen Schrittes.
Sie hörte noch einige Augenblicke den Klang seiner Schritte; aber dieses Geräusch erreichte bald nicht mehr das Ohr des jungen Mädchens, das niederkniete und betete: »O mein Gott, laß nicht durch diesen jungen Unbesonnenen, der fortgeht, ohne mich zu hören, deinen Fluch auf unser Haus kommen! O mein Gott, beschütze ihn vor den Gefahren, die ihn bedrohen! Wache über ihm, denn ach, er nimmt mein Herz mit sich fort!«
Dann vergaß Rosarita in ihrem Schmerz ihre Pläne künftiger Größe, den Willen ihres Vaters, die gegebenen Versprechungen und alle jene trügerischen Täuschungen, die den lauten Schrei einer Liebe zum Schweigen gebracht hatten, von der sie bis jetzt noch keine Ahnung gehabt hatte; sie erhob sich rasch, stieg abermals auf die Trümmer und rief mit herzzerreißender Stimme: »Tiburcio! Komm zurück! Ich liebe nur dich allein!«
Aber ihre Stimme weckte kein Echo. Sie hüllte sich in ihren Rebozo und weinte. Ehe sie wieder in ihr Zimmer zurückkehrte, warf sie noch einen letzten Blick nach der Richtung hin, die Tiburcio eingeschlagen hatte, um den vielleicht noch einmal zu sehen, auf dessen Rückkehr sie immer noch hoffte – aber alles blieb still und finster.
Am äußersten Ende der Ebene, auf der der helle Glanz der Sterne die phantastische Form einiger Gesträuche erkennen ließ, erhob sich der Wald wie ein schwarzer Gürtel; Nebel umkränzten seine Wipfel und begruben ihn in dichte Finsternis. Das ferne Licht blitzte noch immer wie ein Leuchtfeuer mitten aus dem Laubvorhang heraus. Plötzlich kam es den Augen des jungen Mädchens vor, als ob die Flamme höher emporschlage und einen lebhafteren Schein verbreite; gleichsam, um eine gute Aufnahme dem zu gewähren, der keine Zufluchtsstätte mehr hatte.
18. Der Aufbruch in der Nacht
Als Don Estévan und Cuchillo sich von dem Pavillon, den Doña Rosarita bewohnte, entfernt hatten und sie allein mit Tiburcio ließen, blieb der erstere schweigsam, ohne – wie es schien – die Gegenwart seines Gefährten zu bemerken, der ihn jedoch nicht verlassen hatte. Sie befanden sich wieder in der Allee von Granatbäumen, und der Spanier hatte es noch nicht für angemessen gehalten, ihm auch nur einen Vorwurf zu machen, obgleich es nicht in seiner ungestümen Natur lag, sich lange zu mäßigen; aber er war in tiefes Nachdenken versunken.
Besser mit den Geheimnissen des weiblichen Herzens bekannt als Tiburcio, hatte er am Schluß des verliebten Zwiegesprächs, das er gehört hatte, erraten, daß ein zärtliches Gefühl für diesen jungen Mann im Herzen Doña Rosaritas keimte, wenn sie sich auch dessen noch nicht bewußt war. Der veränderte Ton in der Stimme des Mädchens, seine Gebärden – alles hatte seinen Augen, die hellsehender waren als die von Tiburcio, da die Leidenschaft sie nicht blind machte und die Geheimnisse des weiblichen Herzens für ihn kein verschlossener Brief waren, die Beweise für eine Liebe verraten, die von sich selbst noch nichts wußte.
Er hatte bis jetzt die Tiburcio gemachte Entdeckung hinsichtlich des Val d‘Or als eine Sache von untergeordneter Wichtigkeit mit Verachtung behandelt; aber der von Doña Rosarita geliebte Tiburcio war für seinen Ehrgeiz ein unüberwindliches Hindernis. Die Heirat des Senators; die halbe Million, die dieser von der Mitgift seiner Frau für das Gelingen seiner Pläne opfern sollte; die Vorteile, die ihm Tragaduros‘ Einfluß im Senat von Arizpe – der durch seine Freigebigkeit noch vergrößert wurde – in Aussicht stellte – alles verschwand vor diesem neuen Hindernis. Man mußte es also durchbrechen, es um jeden Preis aus dem Weg räumen und sich Tiburcios lebend oder tot bemächtigen. Der Ehrgeiz stellt solch schreckliche Forderungen, denen der Ehrsüchtige alles opfern muß.
Es blieb nur noch die Ausführung dieses Plans übrig. Als der Spanier ihn einmal in seinem Geist beschlossen hatte, brach er zum erstenmal das Stillschweigen. »Ungeschickter Dummkopf!« murmelte er laut genug, daß Cuchillo es hören konnte.
»Beliebt Eure Herrlichkeit, von mir zu sprechen?« fragte der Bandit in einem Ton, in dem die augenblickliche Demütigung mit seiner gewöhnlichen Unverschämtheit stritt.
»Und von wem sollte ich wohl sonst sprechen – wenn Ihr nichts dagegen habt – als von dem Mann, der seinen Gegner weder durch List auszuforschen noch sich seiner durch Gewalt zu entledigen versteht? Ein Weib hätte getan, was Ihr nicht habt tun können. Ich hatte es Euch ja gesagt, dieses Kind ist ein Riese gegen Euch, und ohne mich …«
»Ich leugne nicht, daß Eure Vermittlung mir von Nutzen gewesen ist«, unterbrach Cuchillo; »aber ohne Eure Dazwischenkunft auf dem Weg nach der Poza wäre auch Tiburcio für uns kein Gegner mehr, den wir zu fürchten hätten.«
»Wieso?« fragte Don Estévan.
»Gestern abend, als ich ihn hinter mir auf dem Rücken meines Pferdes nach Eurem Nachtlager hinbrachte, hatte der junge Mann mir gedroht, mich in meiner Ehre beleidigt, und ich wollte eben unseren Streit durch einen guten Büchsenschuß beenden, als ein Abgesandter von Euch – Benito, der Jaguarbewunderer – uns entgegenkam und ein Pferd und Wasser überbrachte; ich mußte auf meinen Plan verzichten. Hier war das Rechte, wie Ihr seht, Don Estévan; die Tugend bringt uns Unglück! Das kommt von unserer Wohltätigkeit.«
»Sprecht von Euch, Schelm!« sagte der Spanier, dessen Stolz sich bei dem Vergleich empörte, den der Bandit zwischen ihnen aufzustellen suchte. »Und wenn man die Abwesenden angreifen darf – was hat denn dieser junge Mann Eurer Ehre zuleide getan ?«
»Was? Weiß ich es? Es war wegen meines Pferdes, das …« Cuchillo hielt inne wie ein Mann, dessen Zunge ein unbesonnenes Wort gesprochen hat.
»Das mit dem linken Fuß stolpert«, fügte Don Estévan hinzu. »Die alte Geschichte vom Pferd Arellanos‘.«
»Ich habe ihn nicht getötet!« rief der Bandit. »Ich habe ihm vielleicht einiges Unrecht vorzuwerfen gehabt, aber … ich habe es ihm von Herzen vergeben.«
»Ihr seid so großmütig! Aber Scherz beiseite; Ihr seht, dieser junge Mann darf uns nicht mehr im Weg stehen. Ich weiß nicht, welch ein Interesse ich an ihm nahm … gegen meinen Willen. In Wahrheit: Was kümmert es mich, ob er – allein, wie er dasteht – ein Geheimnis mit uns teilt? Heute bin ich anderer Meinung. Ich habe Euch eine halbe Unze gegeben, um ihn vom Tod zu retten; freilich ohne zu wissen, wer er war; jetzt will ich Euch zwanzig geben, auf daß er nicht mehr ist.«
»Das lass‘ ich mir gefallen – wir werden wieder Freunde! Seid nicht böse darüber, Don Estévan; morgen aber müßten wir viel Pech haben, wenn bei dieser Jagd auf wilde Pferde das seinige ihn nicht in eine Schlucht stürzte oder ihm nicht den Kopf an einem Felsen oder Baumstamm zerschmetterte oder ihn nicht wenigstens an einen Ort brächte, von dem er nicht wieder zurückkehren wird. Freilich werde ich ein wenig mit Oroche und Baraja teilen müssen; aber ich werde schon dahin sehen, daß es so wenig wie möglich ist.«
»Morgen!« wiederholte ungeduldig Don Estévan.
»Und wer sagt Euch, daß das ›Morgen‹ Euch gehört? Ach was! Ist die Nacht nicht lang, sind diese Gärten nicht weit genug? Seid Ihr nicht drei gegen einen? Wer gibt Euch die Gewißheit, daß ich morgen nicht anderer Ansicht geworden bin?«
Diese Drohung erschreckte Cuchillo. »Caramba!« sagte er. »Eure Herrlichkeit verschiebt nicht gern auf den folgenden Tag, was heute geschehen kann! Wohlan – ich werde mein Möglichstes tun. In der Tat – alles ist so ruhig hier, als ob nichts vorgefallen wäre, obgleich ich, um die Wahrheit zu sagen, erstaunt bin, daß das Geschrei des Mädchens nicht gehört worden ist.«
Wirklich hatte der Kampf zwischen Tiburcio und seinen Angreifern dank der späten nächtlichen Stunde keinen anderen Zeugen gehabt als die Tochter des Eigentümers dieser weitläufigen Hacienda, in der, wie wir schon sagten, alles schlief, mit Ausnahme der Gäste, in deren Interesse es lag, die Freveltat, die eben begangen worden war, zu verbergen.
Während sich Cuchillo nach dem Teil der Gesindewohnungen wandte, wo sich seine Gefährten befanden, schlug Don Estévan den Weg nach seinem Zimmer ein. Der Mond strahlte am Himmel, die Sterne funkelten, und die Luft war erfüllt vom Wohlgeruch der Orangenbäume, ganz als ob das Verbrechen nicht wach gewesen wäre mitten in dieser strahlenden Nacht. Don Estévan ging lange