Stille Helden. Boy-Ed Ida
Auch der Geheimrat verkehrte bei ihr, mit Frau – und die Geheimrätin sei ’ne scharfe Dame gewesen, sagen alle – als ich herkam war sie schon dot. – Na, vielleicht möcht’ die schöne Agathe wieder heiraten, was ja an sich kein sündhafter Wunsch ist. Und auch kein unerfüllbarer. Vorausgesetzt, daß sie ihn nich auf meine Wenigkeit fixiert.«
Jetzt öffnete sich rechts im Erdwall, der die überregnete, dicht ineinanderverflochtene Mauer der frischgrünen Gebüsche trug, eine breite Einfahrt. Ihr primitives, niedriges Tor aus Latten war nach der Koppel zu zurückgeschlagen.
»Da wären wir. Und nu wollen wir mal sehen, wie unser ›Baby‹ die Leute angestellt hat – fixer kleiner Kerl, der Hornmarck – hat ’n Schneid – na, ein Trost – man erlebt immer noch famosen Nachwuchs. – Wir werden uns mal den Helden von Siebenzig ebenbürtig zeigen. – Haben Sie gelesen, Marning – die letzten Depeschen – höllisch brenzlich! Passen Sie auf – in diesem Sommer erleben wir’s …«
Unterdessen begann Klara ihren Unterricht. Im freundlichen Schulhaus und seinen großen Zimmern, die durch beste Einrichtungen gelüftet und durch sehr große Fenster erhellt waren, konnte man fast das Wetter vergessen, obgleich der Regen eiligst an den Scheiben draußen niederrann, als sei es sein Geschäft, sie gründlich abzuspülen.
Die Kinderschar, Knaben und Mädchen, saßen in Reihen, und lauter aufmerksame Gesichter waren der jungen Lehrerin zugewandt, die neben einem großen farbigen Bild an der Wand stand. Das war eine topographische Karte, und Klara lehrte die Kinder die nächste Umgebung kennen und wußte durch allerlei historische Rückblicke, knapp und einfach vorgetragen, diese eingezeichneten Wälder, Felder und Dörfer zu beleben. Jedes einzelne Gewese war auf der Karte eingetragen. Und Klaras Augen sahen, wie infolge einer inneren Nötigung, immer wieder auf die Koppel des Bauern Vietig. Da übte jetzt die Kompanie des Hauptmanns von Likowski Grabenausheben und Schanzenaufwerfen – und der Oberleutnant Freiherr von Marning war auch dabei. –
Plötzlich fiel es Klara ein: Stephan heißt er! Der Geheimrat nannte einmal den Namen.
Und ganz unwillig über diese Störung ihrer Gedanken wehrte sie das von sich: dieser Mann geht mich ja gar nichts an. –
Er sah sehr schön aus – männlich und vornehm, und Augen von seltener Ausdruckskraft hatte er auch. –
Aber wirklich – er ging sie nichts an. – Wie töricht, daß sie diese Augen so deutlich vor sich sah. – Und sie sammelte sich fest und klar auf ihren Vortrag und all die Fragen der aufmerksamen Kinder und überwand dieses unbegreifliche Zurückdenken an eine im Grunde so gleichgültige Begegnung. –
Die Stunde lief ab, und andere folgten ihr – noch drei – sie schwanden schnell dahin. Und als Klara, hinter dem Rücken der letzten sich hinausdrängenden Kinder, nach ihrem Mantel griff, der am Zeugreck im Flur, neben der Tür nach dem Spielplatz hing, kam Leupold und hatte einen Brief und sagte, auf Antwort solle er nicht warten. Sie warf den Mantel über den Arm und öffnete sofort den Brief.
Des Geheimrats eigene Handschrift! Konnte es etwas Wichtigeres geben! Vielleicht bat er sie, im Herrenhause zu essen – es war heute Mittwoch –
Und sie las …
Sie mußte sich an den Pfosten des breiten Zeugrecks lehnen – betäubt – fassungslos –
Nun kamen ihre männlichen Kollegen – Herr Magers wollte, ehe er zu seiner Frau hinauf in das obere Stockwerk ging, ihr noch sagen, daß der kleine Rohrdantz wieder gelogen habe und daß sie doch einmal zu der Mutter des Jungen gehen möge – aus Frauenmund Warnungen zu hören, käme die Mutter sicher leichter an. – Und Herr Kehl strich sich durch seine blonden Haare und wartete, bis der Vorgesetzte treppan gestiegen war, und sah Klara über den Rand seiner Stahlbrille weg unsicher und zärtlich an. Sogar die Kinder der oberen Klasse hatten es schon heraus: »Herr Kehl ist in Fräulein Hildebrandt verschossen.« Nun bat er, verlegen über diese seine Nebentätigkeit, von der er doch einen wunderbaren Umschwung seiner Existenz erwartete, ob er ihr das Manuskript einer schon dreimal von ihm umgearbeiteten Novelle geben dürfe, ihr Urteil sei ihm ihm –
»Morgen,« sagte Klara, »morgen –«
Und sie zerrte sich ihren Mantel um, drückte sich die Mütze auf den Kopf und lief hinaus.
»Fräulein Hildebrandt – Ihr Schirm!«
Sie hörte nicht – sie fühlte ihren Körper nicht – nicht Regen – nicht Sturm – Sie lief – und lief –
Sie dachte nicht, daß Vater oder Sohn sie von den Fenstern des Herrenhauses vielleicht sehen könnten.
Fort, nur fort – in die Einsamkeit. Nachdenken über das Ungeheure, das an sie herantrat.
Wynfried wollte kommen und um sie anhalten.
Die Frau eines Mannes sollte sie werden, den sie nicht liebte.
Was Reichtum – was Rang! »Ich liebe ihn nicht!« schrie alles in ihr.
Treppab, auf den Fluß zu ging es, wie auf der Flucht. Unten war kein Fährmann – drüben saß er, unterm Schirm hockend und das dampfende Essen aus dem Henkeltopf löffelnd, den seine verwachsene Tochter ihm gebracht. Ganz gnomenhaft sah das aus – wie ein Bild aus einem Märchenbuch.
Und der Wind brauste –
Klara kam ja zehn Minuten früher als sonst – sie läutete heftig, als sei Gefahr, an der Glocke. Blechern und doch schrill klang das dringliche Gebimmel hinüber ans andere Ufer, sich vom Chor des gleichmäßig rumorenden Lärms, der vom Hochofenwerk her scholl, als ängstliche Solostimme abhebend.
Es hieß warten. Und wie sie dastand, heftig atmend vom Lauf, von der unerhörten Erregung, ebbte ihr Blut langsam zurück.
Sie wurde bleich, sehr bleich.
Sie begriff, daß sie sich fassen, daß sie nachdenken mußte.
»Er liebt mich nicht!« Das wußte sie durch ihr Frauengefühl.
Sie hatte noch nicht geliebt. Frei und leicht schlug ihr Herz, von keinerlei Erfahrung und Enttäuschung beschwert. Und dennoch wußte sie! Aus jenem Gefühl heraus, das keines Wissens bedarf, um die tiefste Weisheit zu erkennen.
»Er liebt mich nicht!«
Weshalb wollte er sie denn zu seiner Frau machen?
»Sein Vater hat es gewünscht!«
Dies stand ihr über jedem Zweifel.
Und damit kamen ihre Gedanken in eine andere Richtung.
Ihr war, als frage eine zürnende Stimme sie: »Von opferfreudiger Begeisterung standest du wie in Flammen – dein Leben wolltest du hingeben, um ihm zu danken. – Und nun dein Leben wirklich gefordert wird, erschrickst du?«
Klara starrte wie hypnotisiert auf den Fährkahn, der vom jenseitigen Ufer her herangewiegt kam, von starkem Ruderschlag getrieben.
Die Stelle des Briefes stand ihr vor Augen: »Dankbarkeit darf Sie nicht bestimmen!«
Gewiß nicht – nicht für das, was er allein an ihr getan. Denn sie fühlte, daß dies eine heilige Wahrheit sei: daß es noch ein leises Glück bedeutete, für die Tochter der Geliebten sorgen zu können. Und sie begriff ahnungsvoll die Tiefe jener anderen Stelle: »Wo das Wort Liebe ausgesprochen wird, löscht es alle anderen Worte aus.«
»Was er an mir getan hat, war ihm Freude – das verstehe ich wohl – es muß ihm immer gewesen sein, als sähe meine Mutter ihn zärtlich an dabei – Aber das andere! …«
Der Treubruch, die Unlauterkeit ihres Vaters – die großen Summen, die er dem Werk entzogen – dieser schmachvolle Tod. – Und der grandiose Edelmut, der verzieh und alles verbergen half – damit über ihrer Mutter Leben nicht noch der Schimpf komme. –
»Er darf nie wissen, daß ich weiß …«
Klara hatte versprochen, zu schweigen. Aber sie dachte: auch ohne das! Mein Wissen muß ich ihm verbergen – immer – wie er mir seine Großtaten verbarg. Es gibt eben Dinge, die so außerhalb des Lebens stehen, so hoch, daß es unkeusch ist, ihnen mit Worten zu danken.
»Nein,« sprach da wieder