Stille Helden. Boy-Ed Ida

Stille Helden - Boy-Ed Ida


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waren alle überzeugt, daß die Wiederkehr des Sohnes und die Versöhnung mit ihm den Willen zum Leben in dem alten Herrn neu geweckt habe. Daß zwischen Vater und Sohn nicht alles in Ordnung gewesen sein konnte, hatte man fühlen müssen, als der Sohn nicht an das Krankenbett des Vaters kam.

      »Man sieht es wieder,« sagte Professor Rößler, »je intelligenter, nervöser und leidenschaftlicher ein Kranker ist, desto weniger hängt, unter gewissen Umständen, seine Genesung von der Wissenschaft, desto mehr aber von den Dingen ab, über die wir keine Gewalt haben.«

      Und die Herren reisten wieder ab, in der Hoffnung, daß sich vielleicht noch eine leidliche Bewegbarkeit der linken Körperhälfte allmählich werde erzielen lassen; und mit der Gewißheit, daß Schlaf, Appetit und Stimmung des Patienten sich auffallend gebessert hatten. Leupold, dessen Auskünfte den Ärzten immer die maßgebendsten waren, konnte sagen, daß der Geheimrat die Dienerschaft nicht mehr in ungewöhnlicher Frühe herausklingle, sondern, auch wenn er wache, geduldig bis halb sieben liege. Und das war immer seine Stunde gewesen. Geduldig – das war gewiß ein Symptom! In dem Ablauf all der kleinen Lebensumstände, die mit der Uhr zusammenhängen, in seinem Verhältnis zu den Dingen der häuslichen Umwelt war ja der Geheimrat von der bedrohlichsten Ungeduld. Geduld kannte er nur in den großen Aufgaben der Arbeit. Wie besänftigt mußten also sein Gemüt, wie angenehm seine Gedanken sein, wenn er still wachend liegen mochte.

      »Die wissen viel, was mir neuen Mut gebracht hat!« dachte der Geheimrat spöttisch hinter ihnen her.

      In den vergangenen Monaten hatte er geglaubt, sein Leben und sein Werk brächen zusammen. Nun blühten neue Hoffnungen vor ihm auf.

      Wie einfach.

      Aber die ganz großen Wendungen im Dasein haben ja immer etwas wunderbar Einfaches. –

      Am Tage nach der Abreise der Ärzte troff der Regen herab, kalt und trostlos. Über dem Hochofenwerk ballte sich das Dunstgewölk, und zerdrückte Rauchschlangen schlichen sich, niedergepreßt von Wind und Regen, seitwärts weg. Drüben vor der kleinen Stadt um den aufrechten Kirchturm auf hohem Sandufer strichen die Tropfenlinien nieder, so daß es aussah, als stehe eine gerillte Glasscheibe vor dem Bilde. Das fernere Gelände verschwamm im Grau. Auf dem Fluß zog ein Dampfer vorbei; seine hochgestapelte Bretterladung sah ganz ockerfarben aus von all der Nässe. Die schwedische Flagge hing als durchfeuchteter Lappen hinten am Heck. Er ließ aus seiner Sirene einen jammervoll aufheulenden Ton entweichen, als er an den Schiffen vorbeikam, die tief unter den weitausreichenden Skelettarmen der eisernen Entladebrücken ankerten. Dieser Schrei, der wie eine Klage durch die Luft schnitt, war der höfliche Gruß des Schweden an seine Kameraden.

      Das ganze Bild zeigte Düsterheit. Aber das konnte die Stimmung des alten Herrn nicht in Unmut auflösen. Dazu war sie zu fest von frohem Glauben getragen.

      Er saß in seinem Erker und schrieb. Den Bogen konnte er sich gut auf eine Unterlage mit Reiszwecken befestigen. Dann lag das Papier glatt und fest vor ihm, und er konnte es beschreiben. Denn so weit vermochte er die Linke noch nicht zu erheben, um mit ihr den Briefbogen niederzuhalten.

      Ihm war zumute, als schreibe er den wichtigsten und beglückendsten Brief seines ganzen Lebens.

      An Klara war er gerichtet, und er redete sie an:

      »Mein teures Kind!

      Es ist mir seit Ihrer frühen Jugend eine liebe Angewohnheit gewesen, Sie so zu nennen. Aber nun könnte wohl aus der Angewohnheit ein Recht werden, wenn Sie die Frage bejahen, die mein Sohn heute nachmittag an Sie richten wird. Er hat mir die Erlaubnis gegeben, Sie, meine liebe Klara, darauf vorzubereiten, daß er zu Ihnen kommen wird. Heute, weil es Mittwoch ist, brauchen Sie nicht zum zweitenmal zur Schule. Wynfried darf also darauf rechnen, Sie zu Hause zu finden.

      Ich selbst habe Ihnen, ehe Wynfried Sie spricht, noch etwas zu sagen, und das ist, noch mehr als der Wunsch Sie vorzubereiten, der Grund, weshalb ich schreibe.

      Nur ein ganz kurzes Wort! Dieses: daß Dankbarkeit Sie nicht bestimmen darf, sich für Wynfried zu entscheiden! Ganz gewiß erraten Sie mit Ihrem Herzen, daß es für mich eine große Freude sein würde, Sie als Tochter umarmen zu können. Und Sie rufen sich vielleicht ins Gedächtnis in dieser Stunde, daß ich es war, der die bitterste Not des Lebens von Ihnen und Ihrer Mutter ablenken durfte …

      Mein teures Kind, Sie wissen es: ich habe Ihre Mutter geliebt! Ich durfte sie nicht besitzen und sie nicht die Meine nennen. Wenn Liebe so um ihr heiligstes Recht betrogen wird, bleibt ihr nur eine Art von Linderung und Erlösung: für den geliebten Menschen und das, was ihm teuer ist, ein wenig sorgen zu dürfen. Das war das bescheidene stille Glück, das ich mir gönnen konnte.

      Sehen Sie es so, und Sie sehen es richtig. Und dann verstehen Sie auch: Sie stehen nicht in meiner Schuld!

      Wo das Wort Liebe ausgesprochen wird, löscht es alle anderen Worte aus.

      Glauben Sie das einem alten Mann, dessen Leben rauh war und voll Haß. Und dem es vielleicht niemand zutraut, daß er immer tief in seinem Gemüt einen großen Schmerz, einen sehr glücklichen Schmerz mit sich herumtrug.

      Selbst wenn Sie sich gegen meine Hoffnungen entscheiden – nichts, gar nichts kann mich hindern, zu bleiben

      Ihr väterlicher Freund

Severin Lohmann.«

      Er war sehr bewegt, und als ihm das Wort von dem glücklichen Schmerz in die Feder kam, feuchtete sich sein Auge.

      Er dachte: sind nicht vielleicht unsere Schmerzen mehr unser köstlicher Besitz als unser Glück?

      Seine Zuversicht war groß. Er bezweifelte im Grunde nicht, daß Klara seinen Sohn mit Freuden annehmen werde. Sie war seit jenem Sonntag so verändert! In ihrer Stimme bebte ein Nebenklang mit – sie war wie von zärtlicher Ergebenheit gefärbt und umschmeichelte den Hörer wie Liebkosung. Ihr Wesen zeigte eine neue Art von Demut und Hingebung – ihre Hand schien noch pflegsamer, leiser geworden, und der gemessene Ernst, der ihr schon im Schatten ihrer Kindheit angeflogen war, wich einer Weichheit, die sich in Blick und Bewegung deutlich verriet.

      Gerade von dem Tag an, wo sie seinen Sohn kennen gelernt hatte.

      Und obschon der alte Herr sich ganz gewiß nicht für einen Frauenkenner hielt, glaubte er doch so viel von einem Mädchenherzen vermuten zu dürfen, daß es in aufwallendem Gefühl dem Vater sich nähere, – weil es dem Sohn aus holder Scheu sich nicht verraten wolle … Welche Glückseligkeit dieser Gedanke! Und er sah auch so viel Gerechtigkeit darin, wenn Tochter und Sohn zweier Entsagenden sich finden würden.

      Wie machte dieser Wahn ihm auch den Weg zum Sohne leicht!

      Er hatte keine Achtung vor ihm haben können. Und das zu verbergen, war seiner Natur in all ihrer Wahrhaftigkeit und Offenheit sehr schwer gewesen, obschon er begriff, daß seine Verachtung den Sohn vollends zerstören mußte.

      Nun fühlte er: wenn dieses Mädchen ihn lieben konnte oder im Begriff war, ihn lieben zu lernen, dann gab es noch Werte in seinem Sohn. –

      Sein Verkehr mit ihm wurde milder und gleichmäßiger.

      Und als Wynfried ihm gestern erklärt hatte, daß er bereit sei, um Klara zu werben, hielt er lange stumm die Hand des Sohnes in der seinen. Wynfried sagte, daß der Wunsch des Vaters und die Leere und Zwecklosigkeit seines Lebens ihn bestimme; die Liebe freilich, die ein Mädchen zu erwarten pflege und die es verlangen könne, die könne er nicht vorheucheln. Sie sei ihm sympathisch. Das sei alles.

      »Darüber sprecht euch nur unter vier Augen aus,« hatte der Vater geantwortet. »Wenn nur einer liebt, ist es genug. Denn das weckt auch nach und nach die Liebe des anderen. Und sie liebt dich. Sie ist auf das rührendste verändert, seit du hier bist.«

      Das glaubte Wynfried. Er war es so gewohnt, daß die Frauen ihn liebten. Aber er hatte keine, auch nicht die leiseste Regung von Eitelkeit dabei, er stand so unberührbar fern von diesen Dingen – sein Herz war tot.

      Und nun war dieser vorbereitende Brief geschrieben. Leupold sollte ihn in das Schulhaus tragen, genau um zwölf Uhr sollte er ihn, nach der letzten Unterrichtsstunde, überreichen … Dann las sie ihn, kehrte heim – konnte in Ruhe nachdenken – sich vielleicht, wenn sie wollte, mit der Pflegemutter aussprechen


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