Stille Helden. Boy-Ed Ida
Scheckbücher zum Aufblättern bringt – na, der muß schon was Suggestives an sich haben.«
Klara hörte andächtig zu. Sie hatte ein unersättliches Interesse an allem, was sein Werk und sein Leben und sein Haus betraf.
»Das Kapital war aber viel zu klein, mit dem er anfing – er selbst verstand auch nichts von Hüttenchemie – kann sein, daß er nicht von vorn an die rechten Leute neben sich hatte. Es war ein Tasten und Ringen – ein Sorgen und Arbeiten, und immer die Gefahr des Zusammenbruchs neben sich. Ja: toll! Was für Jahre! Und die Ehrenhaftigkeit meines Vaters, an dem die verzweifelte Angst zehrte, fremdes Geld könne durch ihn verloren gehen … Na, das hat ihn ja auch vor der Zeit aufgerieben. – Als Junge von vierzehn mußte ich schon hinaus – lernen – lernen. – Wenn man so im Sorgendunkel aufwächst, sieht man scharf ins Helle hinaus. – Und ich sah bald, woran es bei uns lag. Ich biß die Zähne zusammen und schwor mir: ich mach’s! Als der Vater starb, war ich ein Jüngling von zwanzig und beim Grafen Stürkgen in Schlesien in Stellung – zwanzig Jahre, und sollte ein verschuldetes Werk übernehmen, das teilweise falsch angelegt war und auch an seiner Kleinheit krankte – gewisse Unternehmungen brauchen von vornherein große Dimensionen.
»Nun, der Graf Stürkgen hatte ja wohl Vertrauen zu mir. Er gab mir seinen Direktor mit – einen Mann von kolossalem Wissen und Können. – Der sah sich alles an, prüfte alles durch. Und Stürkgen wagte es, auf den Bericht hin, mich zu stützen. Da fingen Jahre an! Donnerwetter! Die ersten sieben forderten was … Dann sah man: es kommt! Im zehnten hatt’ ich den Sieg! Und vor fünfzehn Jahren gewann ich mir Thürauf als Mitarbeiter. Er ist der eigentliche Schöpfer all unserer Nebenproduktionen, die unsere Erträge fast verdoppelten …«
Er verlor sich in Nachdenken.
Das junge Mädchen wagte kaum, sich zu rühren.
Sie spürte wohl, dieser Rückblick war nicht leicht. Aller Stolz kann den Sieger nicht vergessen machen, was der Kampf ihn gekostet.
»Ja, das Schicksal hat mich an die rechte Stelle gesetzt,« sprach er dann weiter, »ich hatte gerade die Fäuste, die hier zum Anpacken nötig waren. Eins war bitter … Mein Vater hätte noch erleben müssen, was aus ›Severin Lohmann‹ zu werden begann. Er war keiner von den verblendeten Vätern, die den Söhnen nichts zutrauen. Er schickte mich ja gerade so früh hinaus, weil er mich als Mitarbeiter haben wollte. Bin ihm auch immer dankbar, daß er dem Werk seinen eigenen Namen gab, es nicht nach einem symbolischen Vogelvieh oder nach einem griechischen Gott taufte, was ihm vielleicht nicht ganz fern gelegen hätte. Na, nun sind Werk und Mann eins – auch dem Namen nach – und daß mein Junge den sentimentalen Wynfried vor seinem Severin Lohmann tragen muß, das war eines von den Ärgernissen, in deren Erfindung meine Frau groß gewesen ist.«
»Nun weiß ich doch aus Ihrem eigenen Munde die ungefähre Geschichte von Severin Lohmann,« sagte Klara. »Aber wenn ich so bedenke, wie über alles Maß anderer Menschen hinaus Sie gearbeitet haben, wird es mir immer rätselhafter, daß …«
»Daß was, liebes Kind?«
Sie schlug die Augen zu ihm auf. Sah ihn gerade an. Bat um eine offene Antwort, mit aller Kraft ihrer sprechenden Blicke.
»Daß Sie so viel Zeit, so viel Gedanken und so viel Güte für mich hatten und haben. Darüber habe ich oft nachgedacht. Zahllose drängen sich an Sie mit Bitten um Hilfe. Aus Ihrer Beamtenschaft starb mancher hinweg und hinterließ Witwe und Waisen. Ich weiß es, daß Sie alle mit Geld gestützt haben, solange es Ihnen nötig schien. Keiner Waise haben Sie sich angenommen wie meiner.«
»Aber Kind, wie kommen Sie gerade jetzt darauf, mich das zu fragen?« antwortete er ausweichend und sehr beunruhigt.
Klara stand jetzt neben seinem Stuhl, eine von ihren Händen, die Linke, lag auf der Lehne seines Stuhles. Er schaute unwillkürlich auf diese Hand, die so sehr den edlen beredten Händen der geliebten Toten glich.
»Früher,« sagte sie, »wenn mich ab und zu die Doktorin Lamprecht zu Ihnen schickte, mit dem Vierteljahrszeugnis, zu Neujahr, zu Ihrem Geburtstag, da war ich ein etwas furchtsames Kind – es ist so natürlich, sich vor Ihnen zu fürchten,« schaltete sie ein, – »ich wäre bereit gewesen, mich für Sie totschlagen zu lassen. Aber so geradewegs dreist mit Ihnen sprechen? O nie! Dann kam ich ja zwei Jahre nach Hamburg in Pension und machte mein Examen. Und nachher war ich wohl couragierter und fühlte, wie gütig Sie mich ansahen und wie milde Sie sprachen. – Bitte, Herr Geheimrat, lachen Sie nicht über mich – aber Ihre Stimme ist ganz anders, wenn Sie zu mir sprechen, als zu andern Leuten.«
Er sah sie tief an – und mit einem so rätselhaften Ausdruck, daß es sie etwas befangen machte.
Weniger zutraulich, zögernder fuhr sie fort: »Aber auch dann hatte ich keine Gelegenheit, recht mit Ihnen zu sprechen. Wie wäre mir das zugekommen, Ihre Zeit mehr als für Minuten in Anspruch zu nehmen! Kaum daß ich Ihnen zu danken wagte, daß Sie mir meinen Wunsch erfüllten und mich hier an der Schule anstellten.«
»Jetzt aber, heute kommen Sie mit der Sprache heraus?«
»Seit Sie erkrankten, seit ich mich anbot, Sie zu pflegen, was freilich alles nicht angenommen wurde – aber ich darf doch jeden Sonntag kommen …«
»Ja, und bei dem alten Mann im Krankenzimmer die Zeit verbringen, die gesünder im Freien verbracht würde,« unterbrach er sie ablenkend. Sie aber blieb bei ihrem Wunsch, zu wissen, endlich zu wissen …
»Und da habe ich nach und nach gelernt, mich hier heimisch zu fühlen. – Ihre Güte erlaubte mir das, und nun traue ich mich auch, zu sprechen. Bitte Herr Geheimrat, ich hab’ manchmal gedacht: vielleicht hat Ihnen mein Vater sehr wichtige Dienste geleistet?«
Der alte Mann erschrak, auf solche Auffassung war er nicht vorbereitet gewesen. – Ihr Vater … dem er Treulosigkeit, Schädigung und Selbstmord zu verzeihen gehabt! – Aber sie war ja ahnungslos. Er hatte manchmal gedacht, die Doktorin Lamprecht würde den Befehl, zu schweigen, nicht zu halten imstande sein, wo sie sonst etwas an triebhafter Geschwätzigkeit litt – aber so sind Frauen: schwatzen und klatschen – und können dennoch manchmal völlig schweigen – wo sie lieben und schonen wollen …
Welche Lage! Mußte die Tochter nicht doch einmal die Wahrheit über ihren Vater erfahren? Lüge oder auch nur Unwissenheit läßt sich nicht für immer aufrechterhalten. Die Wahrheit schleicht wie auf einem Nebenweg doch immer schritthaltend mit, und plötzlich gibt eine böswillige Hand oder ein Zufall ihr einen Anstoß, und sie fällt dem Ahnungslosen vor die Füße.
Aber er wollte nicht der Grausame sein, dem Kinde zu sagen: Dein Vater war ein Sünder, an allem, was er besaß, an Weib, Kind und Amt …
Nein, er nicht … und gerade jetzt nicht in dieser Stunde.
Er wußte nicht, daß er sich trotz allen Kraftgefühls doch recht verändert hatte seit seinem Schlaganfall und daß er nicht mehr in so eiserner Selbstbeherrschung seine Nerven zu bezwingen vermochte wie früher. Seine Stirn war ganz rot, seine Hände zitterten bemerkbar …
Aber da waren ja diese beredten Blicke, die ihn mit unwiderstehlicher Innigkeit um die Wahrheit baten.
Und er antwortete, während er diesen Blicken auswich: »Ihr Vater? O nein! Wichtige und treue Dienste? O nein!«
Sie schwieg betroffen. Viele viele Herzschläge lang. Seine Röte, – die heisere Stimme, wie Menschen sie haben, die an ihren Worten würgen. – Das sehr starke Zittern seiner ungelähmten Hand, und vor allem sein abgleitender Blick. – Dies Auge wich ihr aus? – Dies gebieterische Herrenauge, das sonst andere bezwang – was bedeutete das?
Ihr Frauengefühl wollte nun erst recht nicht von dem Wunsch ablassen, zu wissen.
»Wegen meiner Mutter?« fragte sie langsam.
Da blitzten die mächtigen Augen sie wieder hell an.
»Ja,« sprach er, »Ihre Mutter – ich habe – sie war – Liebes Kind! Ich habe Ihre Mutter sehr lieb gehabt.«
»Und meine Mutter?« fragte Klara weiter. Ihre Farbe hatte sich verändert, ihr war, als wolle irgend eine dunkle Angst über sie kommen – daß sie mit ihren Fragen an Tragik rührte, die besser ungeweckt und verschleiert