Stille Helden. Boy-Ed Ida
und Trost, ich ihr Halt und Schutz. Aber wir durften es uns kaum gestehen, die Hoffnungslosigkeit war vom ersten Augenblick an mit uns. Meine Frau hätte mich niemals freigegeben – nie – aus kleinlicher Schadenfreude nicht. – Unsere Lage war bitter – sie war gefährlich – aber in unserem Schicksal hatten wir einen wunderbaren Schutz …«
Klara sah ihn wartend an. Da schloß er langsam: »Die Würde deiner Mutter …«
Sie kniete nieder neben seinem Stuhl, etwas zwang sie – und sie küßte seine Hand. Er entzog sie ihr und legte sie auf ihren Scheitel. Unter ihrem schweren Druck richtete sie doch ihr Gesicht ein wenig empor und ihm zu. Sie sah ihn mit grenzenloser Verehrung an.
»Ich wollte, du wärest meine Tochter, oder du würdest es!« sprach er.
Sie lächelte mit Tränen in den Augen.
Sie erhob sich, ganz arglos nahm sie diese Worte.
»Es war immer schon, als wär’ ich’s, wie ein Vater haben Sie an mir gehandelt. Aber nun ist es doch, als sei ich Ihnen noch näher gekommen …«
Ihr Gemüt war ihr nun übervoll. Viel hätte sie wissen mögen – von ihrer Mutter – vom Herzeleid dieser beiden ihr heiligen Menschen – von der Frau, die zwischen dem Manne und ihrer Mutter gestanden. Aber auch ihr eigener, leiblicher Vater mußte ja dazwischen gestanden haben – was war es mit ihm? Weshalb erwähnte der alte Herr nur seine Frau, nicht aber den Gatten ihrer Mutter?
Und in ihr Ohr kam der seltsame Ton zurück, in welchem der Geheimrat gesagt: »Ihr Vater wichtige, treue Dienste? O nein!«
Dies »O nein!« barg eine Ablehnung, so schroff, so wegwerfend, wie sie der Sprecher selbst mit Vorsatz gewiß nicht hatte verraten wollen.
Und plötzlich fiel es ihr noch schwer auf, daß er, der in so starken Worten die Mitarbeiterschaft des Generaldirektors Thürauf rühmte, über die ihres Vaters schweigend hinwegging.
Das hatte irgend einen geheimnisvollen Grund …
»Ich muß wissen,« dachte sie entschlossen. Denn sie war ein mündiger Mensch und brauchte in allen Dingen ihres Innenlebens immer Klarheit.
Aber sie fühlte, daß sie den alten Herrn nicht weiter fragen dürfe – wenigstens nicht in diesem Augenblick. Seine heiße Röte vorhin, das Zittern seiner Hand – das hatte sie erschreckt. Er durfte sich doch nicht aufregen.
Sie hörte, daß die Tür geöffnet wurde. Gottlob, Leupold oder sonst irgend jemand kam, und das half sofort, die Stimmung und das Gespräch in das Alltägliche hinüberzubringen – wie es eben für den noch Schonungsbedürftigen am besten war.
Sie wandte sich um und wußte auf der Stelle: der da herankam, das war Wynfried – der Sohn. Viele Jahre hatte sie ihn nicht gesehen und kaum je wirklich mit ihm gesprochen.
»Hier, Wynfried, ich kann dich nun meinem Pflegetöchterchen vorstellen – Fräulein Klara Hildebrandt.«
Klara reichte ihm freundlich die Hand.
»Wie freue ich mich für Ihren Vater, daß Sie hier sind.«
»Ich weiß nicht, gnädiges Fräulein, ob ich Anspruch auf gemeinsame Kindheitserinnerungen erheben darf,« sagte er.
»Aber nein – garnicht. Solche wollen wir nur nicht konstruieren. Sie waren nicht nur durch die sechs oder acht Jahre, die Sie mehr haben, von mir getrennt. Sie waren immer nur von fern sichtbar, mit dem Hauslehrer oder Ihrer Mutter.«
»Ja – ich durfte mich nie austoben. Mama war so ängstlich mit mir – ich weiß noch: Damals erschien es mir als das Herrlichste von der Welt, nur einmal eine kolossale Prügelei haben zu dürfen.«
»Der sieht freilich aus, als hätte er viel Kummer gehabt,« dachte sie mitleidig, während er sprach. Welche Sorge für den Vater – den einzigen Sohn so seltsam förmlich, so unjung, als wäre er eigentlich lieber nicht hier, zu sehen. Draußen in der Welt hätten sie ihn »zerzaust«, hatte sein Vater vorhin gesagt. Ruhe müsse er haben, sich besinnen. Und ihre natürliche Mädchenneugier fragte sich: Unglückliche Liebe? Das machte ihn ihr doch gleich interessant.
»Ich bin Ihnen dankbar, daß Sie meinen Vater besuchen und erheitern.«
»Das Dankenmüssen ist ganz auf meiner Seite. Alles, was ich bin, bin ich durch Ihres Vaters Güte. Aber ich komme nicht aus Dankbarkeit. Es ist mein Stolz und mein Glück, daß ich kommen darf.«
Sie sah den alten Herrn mit innigem Blick an, und er nickte ihr zu.
Wynfried hatte ein unbehagliches Gefühl – als sei er hier zwei Verbündeten ausgeliefert. Wußte dies Mädchen um seines Vaters Wünsche? Unmöglich! Dann konnte sie nicht so unbefangen sein.
Die klaren und unverbindlichen Antworten, die sie ihm gab, machten es ihm schwer, weiter mit ihr zu sprechen. Er sah wohl, daß sie sehr schön war und denselben Zauber der Weiblichkeit hatte, wie einst ihre Mutter ihn besaß. Das drückte sich so erkennbar in jeder leisen Bewegung, im Klang der sanften Stimme aus.
Diese Art von Schönheit, deren eigenster Reiz die Verbindung von strengen Linien mit weicher Anmut war, hatte ihn nie zu fesseln vermocht.
Aber er war sozusagen mit allen Interessen und Nerven auf Frauen eingestellt – die alte Gewohnheit, auf jede einzugehen, ihr angenehm sein zu wollen, wurde unbewußt wach in ihm. Dazu kam das neugierige Wissen, daß dies die Frau sei, die sein Vater für ihn bestimmt hatte – und der halbklare Wunsch, seinem Vater guten Willen zu zeigen.
Er holte sich einen Stuhl und setzte sich Klara gegenüber an den Tisch, der neben dem Krankheitsthron stand.
»Ich sehe, Leupold hat für drei aufgedeckt. Es ist also vorgesehen, daß Sie mir auch gütigst eine Tasse Tee gönnen sollen.«
Während Klara ihn bediente, meinte sie: »Wenn Ihr Vater jetzt auch Sie hat – überflüssig komme ich mir doch nicht vor. Männer, die die ganze Woche von der Arbeit zusammen sprechen, würden es auch noch Sonntagnachmittags tun, wenn da nicht jemand wäre, der sehr wenig davon versteht.«
»Ah, Sie wissen, daß ich hier bleiben werde?«
»Ist es ein Staatsgeheimnis? Ich habe es Fräulein Hildebrandt erzählt,« warf der Geheimrat ein.
Wynfried verbeugte sich im Sitzen leicht gegen Klara, als wolle er sagen, daß er sich keine willkommenere Mitwisserin seiner Angelegenheiten denken könne.
»Und Sie haben die Geduld und den Mut, gnädiges Fräulein, die Kinder der Arbeiterschaft zu unterrichten?«
»Nun, irgend etwas mußte ich doch tun, um meine Kräfte zu brauchen und mein Brot zu verdienen,« sprach sie ruhig.
»Aber gab es nicht reizvollere Beschäftigungen, die Ihnen mehr Freude gebracht hätten? Etwa der Posten einer Gesellschaftsdame in einem großen Hause, wo viele Menschen verkehren, wo man reist, Kunst genießt, tanzt – Vater mit seinen Beziehungen hätte Ihnen doch leicht dergleichen verschaffen können.«
Der Geheimrat wartete mit Vorfreude auf die Antwort – diese ganze Szene unterhielt ihn überhaupt auf das Spannendste. Er selbst war ja der Mann der ersten Eindrücke, der raschen Entschlüsse. Er fühlte, oder vielmehr er bildete sich ein: man wird schon heute sehen, ob es geht mit den beiden!
Klara schüttelte nur leise den Kopf.
»Hier kam ich her, als ich zwei Jahre alt war, so weit reichen meine Erinnerungen natürlich nicht zurück. So ist es mir, als sei ich hier geboren. Hier bin ich aufgewachsen – inmitten des Werks habe ich meine ersten Eindrücke gehabt – später hab’ ich an seinen Grenzen gelebt, immer in der Umwelt, die durch das Werk Verdienst, Wohlstand und Inhalt hatte. Meinen Unterhalt, seit ich Waise war, verdanke ich Ihrem Vater, ihm meine Ausbildung und daß ich nun auf eigenen Füßen stehe und selbstverdientes Brot essen kann. Nie hab’ ich etwas anderes im Gefühl gehabt, vor mir gesehen als dies eine, daß auch ich für ›Severin Lohmann‹ tätig sein müsse. Wie sollt’ ich’s? Als Buchhalterin? Stenographin? So im Bureau sitzen? Ach nein, das wäre nicht mein Fall gewesen – dabei wäre ich mir nur wie ein Instrument vorgekommen. Ich mag erziehen – auf andere ein wenig wirken können, Entwicklung zu sehen macht doch Freude. So drängte es sich