Stille Helden. Boy-Ed Ida
zu leben! Er konnte, er durfte noch nicht davon, ehe er noch nicht wußte: Wer und was ist mein Sohn? Was wird aus meinem Werk, meinem Reichtum?
Ein beinahe abergläubischer Gedanke fiel wie ein Blitz in seine glühende Unruhe.
»Durch die Weiber, seine Mutter eingeschlossen, ist er ja zerbrochen worden. Ein Weib soll aus ihm den rechten Mann machen, denn er muß doch auch schließlich einen Tropfen von meinem Blut in seinen Adern haben.«
Aber wo die Rechte finden?
Hier waren keine. Die fröhliche Mimi, seines ersten Chemikers Einzige – ach, die war ja gänzlich eine angenehmere höhere Tochter und nichts mehr. Und die drei seines Generaldirektors Thürauf? Trefflich erzogene nette Mädchen, mal passend für sparsame, strebsame Beamte. Oder der rothaarige Backfisch des Großindustriellen Stuhr, der vor drei Jahren drüben in Schlutup eine große Sensenfabrik gegründet hatte? Vielleicht die Witwe des Barons Hegemeister, die auf ihrem Schloß Lammen saß und von der man sagte, sie seufze von ihrer Kemenate übers Meer hinaus, ob nicht ein zweiter Gatte dahergefahren käme? Alle nicht für Wynfried passend.
Keine – weit und breit. Und der Vater hatte doch das starke Gefühl, er müsse für den Sohn wählen. Daß Wynfried kein Urteil über weiblichen Wert oder Unwert besaß, war ja erwiesen. –
Keine? Er fühlte plötzlich, daß er sich all diese Figuren vor sein Auge gerufen hatte, nur um an der einen vorbeizusehen, die seines Sohnes guter Engel werden konnte – denn sie war die eine, von der er vorher wußte: ihr entlockte Reichtum und Stellung kein rasches Ja! Sie würde nur einwilligen, wenn ihr Herz und Verstand Aufgaben sahen.
Einen ganz roten Kopf hatte er bekommen. Er strich sich mit der Rechten über die Stirn, als könne er Hitze und Röte wegwischen. Er sollte sich doch nicht aufregen … und ganz plötzlich war er von einer ängstlichen Folgsamkeit erfüllt – hatte den nicht gerade klar zum Bewußtsein kommenden, aber doch dringlichen Vorsatz, allen ärztlichen Anordnungen fortan mit Lammesgeduld zu folgen. Denn er wollte leben – leben!
Er sah nach der Uhr. Halb acht! In einer Viertelstunde mußte sie sichtbar werden. Dann tauchte ihre Gestalt auf – die Sandsteintreppe zwischen den Anlagen kam sie herauf, denn sie wohnte drüben bei der alten Witwe des früheren Hüttenarztes. Und die Doktorin Lamprecht liebte das Mädchen wie ein eigenes Kind. Jeden Morgen und Nachmittag, in Wind und Wetter, an lachenden Sommertagen und wenn Schnee durch die Luft trieb, kam sie über die Fähre her, auf ihrem Berufsweg, der sie ins Schulhaus führte. Das lag weiter hinauf an der Landstraße. Man mußte an der ganzen Front des Werkes vorbei und noch ein paar Minuten weiter, dann kam man an das fröhlich aussehende weiße Haus mit grünen Läden und rotem Dach, das der Geheimrat für den Schulunterricht all der Kinder von Severinshof gebaut hatte.
Diese Kolonie zog sich in einem Viertelkreis nördlich des Werkes hin. Das Schulhaus an der Landstraße war ihr Abschluß. Auf das Schulhaus folgte dann mit ihrem großen Garten die stattliche Villa des Generaldirektors Thürauf und die Doppelhäuser für all die meist verheirateten Herren Chemiker, Ingenieure und kaufmännischen Abteilungsvorstände des Werkes. In Severinshof hatte der Geheimrat den Stamm der Arbeiter in freundlichen Häuschen mit Gärten angesiedelt, die sich dem Werk auf immer verbunden fühlten und von ihm Pension für ihre Feierabendruhe erwarteten.
Sie unterrichtete in der Schule seit zwei Jahren oder dreien – dem Geheimrat kam es vor, als müsse es schon immer so gewesen sein.
Jeden Morgen, seit er das Bett mit diesem Stuhlungeheuer hatte vertauschen dürfen, war es seine Unterhaltung, aufzupassen, ob sie pünktlich zwischen den Hainbuchenwänden auftauche, die die Sandsteintreppe bis zum Fluß hinab begleiteten, und ihr Gruß war ihm sein bißchen Poesie. – Und jeden Sonntagmorgen, manchmal auch Sonntags nachmittags kam sie zu ihm ins Haus zum Tee, eine schöne reiche Stunde lang.
Sie verstanden sich gut, der alte viel-vielfache Millionär, der starke Herrscher und stolze Arbeiter, und die arme Volksschullehrerin.
»Wenn sie meine Tochter werden wollte!« Der Gedanke an diese Möglichkeit erschütterte ihn beseligend.
Er sah der teuren Toten in die Augen, die unsichtbar in den Stunden, wo er sich mit sich selbst beschäftigen konnte, immer bei ihm war. – Ihr Segen wäre über den Kindern –
Aber würden sie wollen? Dieser Sohn, der zu müde und freudlos erschien, um noch einen Entschluß zu fassen? Dies Mädchen, das mit einer so entschlossenen Gefaßtheit, verschlossen ohne Kälte, zufrieden, wunschlos in bescheidenen Verhältnissen dahinlebte, obgleich ihre frühe Kindheit von Luxus umgeben gewesen war?
Reue erfaßte ihn. Er hätte das Kind, als es verwaist und mittellos dastand, in sein eigenes Haus aufnehmen sollen, dann hätte Wynfried die Heranwachsende oft gesehen, vielleicht würdigen und lieben gelernt, und alles wäre von selbst einer glücklichen Wendung entgegengewachsen, was man nun gewaltsam einzubiegen und einzurenken versuchen mußte.
Aber damals lebte ja seine Frau noch … Daß er das auch nur einen Augenblick vergessen konnte. Seine Frau, die das Mädchen mißbildet oder mißhandelt hätte, auf diese feine Weise, wie sie zu mißhandeln verstand, durch Hochmut und Kälte, die so versteckt waren, daß sie sich immer ableugnen ließen, und doch so spürbar, daß man sich darunter bog wie unter Peitschenhieben.
Nun war es zehn Minuten vor acht, gleich mußte sie kommen.
Die Anlegebrücken hüben und drüben konnte er nicht von seinem Platz aus sehen; auch jene Stelle des Flusses, über die der Fährmann seinen Kahn ruderte, verbarg ihm ein Baumwipfel.
Jetzt erschien ihr Haupt. – Der Körper wuchs auf der Treppe, nun stand sie auf der obersten Stufe und hob das Gesicht zu ihm. Eigentlich konnte er von seinem hohen Sitz aus nicht jeden Zug deutlich erkennen. Aber mit den Augen der Seele sah er sie, als stehe sie dicht vor ihm. Ihm schien ihr einfaches dunkles Kleid wie eine vornehme Tracht; ihre Kleidung war so sorgsam – am schlanken Halse glänzte der weiße Kragen, auf dem lockeren Haar saß ein einfacher gefälliger Hut. – Unter dem Arm trug sie Bücher. Was für eine stolze und sichere Haltung sie hatte, und wie schön sie sich bewegte. Diese feinen klugen Züge, den etwas herben Mund, die tiefen grauen Augen – er kannte sie seit vielen, vielen Jahren.
»Klara!« sagte er lautlos zu ihr hinab. Und er meinte eigentlich doch eine andere Klara. Die, die längst von den Enttäuschungen ihres Lebens ausruhte, in jener Ruhe, die nichts mehr von sich weiß, nicht einmal die Wohltat fühlt, daß alle Not zu Ende ist …
Ihre Tochter! Die Tochter der Frau, die er geliebt und nie besessen hatte. –
Zuweilen dachte er: Wenn die Welt das wüßte! Lachen würde sie, lachen darüber, daß Severin Lohmann das Andenken an eine entsagungsvolle Liebe heilig hielt.
Er aber fühlte tief: auch der Rauheste, auch der Größte, auch der Arbeitsriese – er verliert alle Fäden zum Verständnis der Menschen, verliert sich selber in Unbarmherzigkeit und Kälte, wird zur Maschine, wenn er nicht tief in sich ein leises kleines Feuer lebendig hält; und das Verlangen zur Liebe und zum Gedankenspiel mit einer Liebe, das ihm wie allen Sterblichen eingeboren war, hatte ihm sein Weib nicht sättigen können. – Als er acht Tage mit ihr verheiratet gewesen war, wußte er schon, daß eine schöne Larve ihn getäuscht hatte.
In den schweren und bitteren Erwägungen der heutigen Morgenstunde war das alles wieder zu starkem Leben erwacht, das Leiden und die Entsagung von einst …
Klara grüßte herauf – und seltsam: anstatt wieder zu grüßen, streckte er nur die Rechte gegen das Fenster. Wie eine verlangende Geste war das: komm!
Und sie lächelte, er sah es genau. Sie nickte, wie ein unbefangenes fröhliches Mädchen tut, das in gesunder Freudigkeit an seine Pflicht geht.
Ja sie – sie! Sie war die Gesundheit, sie war die Kraft. Sie war die Jugend, sie war die Schönheit. Die Liebe, das Glück.
In der Stärke seines Wunsches, in der Herrengewohnheit, Wunsch und Wille sich untrennbar rasch vermählen zu lassen, in der grandiosen Selbstsucht des Verantwortlichen, der nur seine heiligen Zwecke bedenkt, in all diesen großzügigen Gewohnheiten seines geistigen Lebens kam ihm gar nicht die Erwägung, ob er auch Schicksal spielen wollte, vielleicht zum Unheil anderer Menschen.
Er