Moderne Geister. Georg Brandes

Moderne Geister - Georg Brandes


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eigene Lebensanschauung des Dichters zurück. Es ist das Lauschen der harmonisch angelegten Natur auf ihre eigenen Harmonien. Alles geben die unendlichen Götter ja ihren Lieblingen ganz, alle die unendlichen Freuden und alle die unendlichen Schmerzen ganz. Diese Lebensphilosophie nimmt selbst den Missklang des unendlichen Schmerzes in ihre innere Harmonie auf und vermag ihn für sich aufzulösen. Hier ist der Punkt, wo Heyse sich am schärfsten von Turgenjew und den andern grossen modernen Pessimisten der Poesie scheidet. Er wagt es, seinen Lieblingspersonen selbst sehr unschöne und abschreckende Vergehen beizumessen, um ihnen nach allerlei Prüfungen und Qualen den innern Frieden wiederzugeben. Der junge Baron in dem Roman „Im Paradiese“ ist ein Beispiel. Eine Sünde gegen sein besseres Ich lastet auf seinem Gewissen. Die innere Harmonie mit dem eigenen Gefühl, „auf die Alles ankommt“, ist ihm verloren gegangen. Es zeigt sich im Laufe der Erzählung, dass er sich durch jenes Vergehen noch dazu gegen seinen besten Freund vergangen. Aber durch alle Irrungen und alles Unglück, das hieraus erwächst, findet er sich wieder. Die Harmonie der Natur war nur zeitweise aufgehoben, nicht, wie er es fürchtete, heillos zerstört.

      Unmittelbar ist der Instinct die Stimme des Blutes. Daher kommt es, dass die Individuen bei Heyse tief in Stamm und Race wurzeln. Sie scheinen wie das Gesetz Mosis zu lehren, dass die Seele im Blute ist. Sie folgen der Stimme des Blutes und appelliren an sie. Die unentwickelten sind der kräftige Ausdruck eines Racentypus; die entwickelten unter ihnen kennen ihre Natur und respectiren sie; sie nehmen sie als gegeben mit dem Gefühle, dass sie sich nicht ändern lässt; sie werden ebenso durchgängig von ihrem Naturinstinct geleitet, wie die Charaktere Balzac's vom Eigennutze. Um zu verdeutlichen, was ich meine, führe ich ein paar Stellen aus den „Kindern der Welt“ an: Als Edwin in Toinette heftig verliebt ist, geht sein Bruder Balder ohne sein Wissen zu ihr, um sie zu bitten, nicht aus einer Grille oder im Leichtsinn den Bruder zurückzuweisen und sich an einen Fremden wegzuwerfen. Hierauf bekommt er die Antwort, dass sie erst jetzt erfahren und begriffen habe, woran es liege, dass sie kein Glück im Leben gewinnen könne. Sie hat das Geheimniss ihrer Herkunft entdeckt, dass nämlich ihre unglückliche Mutter nur gezwungen in die Gewalt ihres Vaters kam, und daraus erklärt sie sich's nun, dass sie, wie sie glaubt, nicht lieben kann: „Mein Freund“, sagt sie, „ich glaube, dass Sie es gut mit mir meinen, Sie und Ihr Bruder. Aber es wäre ein Verbrechen, wenn ich mir einredete, Sie könnten mir helfen, jetzt, da ich so klar Alles einsehe, von meinem Schicksal weiss, dass es mir nun einmal im Blute liegt“. (Die Worte sind im Texte gesperrt.) Dies ist für sie der letzte unwiderlegliche Beweisgrund. Und bei allen Personen des Buches tritt dieser an Aberglauben grenzende Respect vor der Natur hervor. Wie er sich bei Toinette findet, so bei ihrem Gegenpol Lea. Sie contrastiren in allen Punkten; nur in dieser einen Hinsicht stimmen sie überein. Als Lea, die Edwin's Frau geworden ist, erfahren hat, wie viel Macht die Erinnerung an Toinette noch über sein Herz besitzt, und als sie während ihrer Trauer einen Augenblick, in einem Buche Edwin's lesend, sich damit tröstet, wie gut sie Vieles von dem, was er geschrieben und was manchem anderen Weibe zu hoch sein würde, versteht, wirft sie plötzlich das Buch wieder fort, denn es fährt ihr durch den Sinn, „wie ohnmächtig alles Einverständniss der Geister sei gegen den blinden, unvernünftigen, elementaren Zug der Naturen, der alle Freiheit knechtet und die Weisesten bethört“. Sie ist ein scheinbar rein intellectuell angelegtes Weib. Ein lebhafter Drang nach Wissen und geistiger Klarheit hat sie zu Edwin geleitet, er hat sie in – der Philosophie unterrichtet. Man könnte also glauben, dass sie jetzt ihrerseits einen Kampf gegen jene magische Macht des Blutes durch einen Appell an die Geistesmächte, die sie so lange mit Edwin verbunden haben, versuchen würde. Im Gegentheil! Weit entfernt, nur als strebender Geist charakterisirt zu sein, ist sie vor Allem eine Natur. Sie hat ihn immer glühend geliebt, aber sie hat gefürchtet, dass seine Liebe, weniger heiss als die ihrige, durch Ausbrüche ihrer Leidenschaft verscheucht werde, und doch hat sie – die Philosophin – in ihrer Einsamkeit zu sich selbst gesagt: „Liebe ist Thorheit – seliger Unsinn – Lachen und Weinen ohne Sinn und Verstand. So habe ich ihn immer geliebt, bis zum Vergehen und Vergessen aller Vernunft“. Jetzt, da das Glück ihrer Ehe auf dem Spiel steht, bricht sie in die Worte aus: „Wenn er merkt, dass ich das Blut meiner Mutter in den Adern habe, heisses, alttestamentarisches Blut, – vielleicht kommt er dahinter, dass er sich sehr verrechnet hat, als er mit einem solchen Wesen eine ‚Vernunftehe‘ schliessen zu können glaubte. Vielleicht kommt der Tag, wo ich ihm Alles sagen darf, weil er selbst nicht mehr genug hat an einem bescheidenen Lebensglück, wo er etwas Stolzeres, Uebermüthigeres, Ueberschwänglicheres verlangt – und dann kann ich ihm sagen: Du hast nicht weit zu suchen, die stillen Wasser sind tief“.5 Alles ist hier charakteristisch, sowohl die Zurückführung auf Abstammung und Race, wie der Protest der heissen, leidenschaftlichen Natur gegen die Verkleidung der unmittelbaren Leidenschaft als vernünftige Hingebung. Nur wer mit diesem Grundzuge Heyse's vertraut ist, wird das rechte Verständniss und Interesse für eins seiner Dramen haben, das sonst sein schwächstes sein dürfte, und das aus mehreren Ursachen mir seiner nicht ganz würdig erscheint; ich meine „Die Göttin der Vernunft“. Oder ist es nicht höchst eigenthümlich, dass Heyse Angesichts der ganzen riesenhaften französischen Revolution sich aus ihr gerade diesen Stoff zurecht legt, und ihn gerade so behandelt? Mancher Dichter würde mit der Wahl eines solchen Gegenstandes sich ein Organ für das Pathos, der Revolution suchen oder er würde die reine Begeisterung der Vernunftgöttin im historischen Augenblick eine gedankenlose und unwürdige Vergangenheit adeln lassen, die sich dennoch tragisch rächt. Ein Dichter wie Hamerling könnte vielleicht etwas Ansprechendes aus diesem Gegenstande machen. Heyse erstaunte, seiner Naturanlage gemäss, bei dieser Erscheinung: ein Weib, ein Stück Natur mit weiblichem Instinct und weiblicher Leidenschaft, wird für die Vernunft, die Vernunftgöttin, d. h. die trockene, steife, rationalistische Vernunft des 18. Jahrhunderts ausgegeben! Und er dichtet dann ein Weib, das kraft der Tiefe ihrer Natur (im Grunde ihrer Zeit vorausgeeilt) von dem Gefühl ergriffen ist, dass das ungeheure All-Leben sich auf keine Schulformel zurückführen lässt, ein Weib, das liebt und fürchtet, leidet und hofft, das für das Leben ihres Vaters und ihres Geliebten zittert, das vor Qual, von dem Geliebten verkannt zu werden, verzweifelt, und lässt dann dies Weib, das als ein echtes Kind ihres Dichters gesagt hat: „Mir ist das Höchste: Nichts zu thun, was mich mit mir selbst entzweit“, mit allen Fibern vor Leidenschaft bebend, in persönlicher Verzweiflung, ohne einen Gedanken an das Allgemeine und Abstracte, an Republik oder Geistesfreiheit, und während ihr Vater vor der Kirchenthür getödtet wird, – nothgedrungen vom Altare herab das neue Vernunft-Evangelium verkünden, das sie selbst einmal spöttisch als das Weltgesetz, dass zwei mal zwei vier sind, bezeichnet hat. Viel werthvoller, als in poetischer Hinsicht, scheint mir dies Stück als Beitrag zur Psychologie seines Dichters.

      Man würde Heyse indess sehr Unrecht thun, wenn man aus dem bis jetzt Hervorgehobenen schliessen würde, dass er nichts Höheres als die elementare Natur und ihre Triebe anerkenne. Mit dem Worte Instinct ist hier etwas von dem einzelnen Triebe völlig Verschiedenes gemeint. Der Instinct ist der Drang, sich ganz zu bewahren. Darum kann Heyse auch sehr wohl eine freie Sympathie über die Bande des Blutes und selbst über das nächste Verwandtschafts-Verhältniss triumphiren lassen. In der Novelle „Der verlorene Sohn“ versteckt und pflegt eine Mutter, ohne es zu wissen, den unschuldigen Mörder ihres Sohnes, und als dieser durch seine Liebenswürdigkeit sowohl das Herz der Mutter wie der Tochter gewinnt, lässt der Dichter ihn die Tochter als Braut heimführen. „Der verlorene Sohn“ wurde in ehrlicher Nothwehr getödtet und sein Gegner hat nicht einmal seinen Namen gekannt. Selbst als die Mutter das Nähere über den Tod des Sohnes erfährt, legt sie darum der Heirath kein Hinderniss in den Weg, sondern trägt allein und ohne Jemand ihr Geheimniss zu vertrauen, das Unglück, das sie getroffen hat. Hier ist also mit voller Zustimmung des Charakters ein rein geistiges Band an die Stelle der Blutsbande getreten; die Mutter nimmt den als ihren Sohn an, durch dessen Hand ihr eigener Sohn gefallen ist; aber indem sie das thut, handelt sie in Uebereinstimmung mit ihrer tiefsten Natur und bewahrt ihre Seele ungetheilt. Das Gleiche gilt in allen Fällen, wo bei Heyse die Persönlichkeit aus Pflichtrücksichten eine wirkliche Leidenschaft, eine tiefe Liebe zurückdrängt. Wo es geschieht (wie im Drama „Marie Moroni“, in der Novelle „Die Pfadfinderin“, oder in dem Romane „Die Kinder der Welt“), da geschieht es eben, um die Treue gegen sich selbst zu bewahren, um nicht die Ganzheit und Gesundheit seines eigenen Wesens einzubüssen, und man sieht die Pflicht dem eigenen Born der Natur


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K. d. W. III, 210, 242, 256.