Die Welt auf Schienen. Fürst Artur
Eröffnung der Bahnstrecke Manchester-Liverpool fand am 15. September 1830 statt. Dieser Tag bedeutet den Anbruch des Verkehrszeitalters. Die erste Eisenbahnlinie, die auch heutigen Anforderungen gegenüber einigermaßen bestehen könnte, begann ihren Betrieb. Auch das damalige England fühlte die Bedeutung dieses Ereignisses. Es wurde als eine Art Vaterlandsfest begangen. An der ganzen Bahnlinie entlang hatten sich wiederum Tausende von Zuschauern eingefunden, die durch Soldaten vom Betreten der Geleise abgehalten werden mußten.
Für die erste Fahrt, die von Liverpool aus stattfand, standen acht von Stephenson in Newcastle gebaute Lokomotiven zur Verfügung. Acht Züge wurden fertig gemacht, in denen sich etwa 600 Personen befanden. Viele bedeutende Persönlichkeiten hatten sich zur ersten Fahrt eingefunden. So der Nationalheld Herzog Wellington, der damals Ministerpräsident war, der Staatssekretär Robert Peel und der von den Bewohnern Liverpools in das Unterhaus gewählte Abgeordnete Huskisson, der ja von Beginn an ein lebhafter Verteidiger der Bahn im Unterhaus gewesen war.
Der erste Zug wurde von der Lokomotive „Northumbrian“ gezogen. Jeder Wagen hatte einen eigenen Namen wie „Traveller“, „Chinese“ oder „Wellington“. Das Gepäck der Reisenden lag auf dem Dach. Die vornehmsten Fahrgäste hatten ihre eigenen Kutschen auf Plattformwagen setzen lassen und fuhren auf deren Sitzen teilweise unter freiem Himmel mit. Die Güterwagen glichen Vogelkäfigen, denn man hatte sie der größeren Leichtigkeit wegen nur aus Gitterstäben zusammengesetzt. Durch den Tunnel unter Liverpool konnte keiner der Züge mit der Lokomotive gefahren werden, da der Qualm die in den offenen Wagen Sitzenden allzusehr belästigt hätte. So mußten die Züge zu Stephensons großem Verdruß durch die Felsbohrung an Seilen hinuntergelassen werden, und dann erst wurden die Lokomotiven vorgespannt.
Ungefähr auf halbem Weg, beim Bahnhof Parkside, wurde halt gemacht, weil hier die Lokomotiven Wasser nehmen mußten. Leider sollte sich an dieser Stelle gleich das erste Eisenbahnunglück zutragen. Der Abgeordnete Huskisson hatte seinen Platz verlassen und stand neben einem der Züge auf dem Nachbargleis. Plötzlich brauste hier die „Rakete“, die, losgekuppelt, noch einmal ihre volle Geschwindigkeit zeigen wollte, heran. Es gelang Huskisson nicht mehr, rechtzeitig fortzuspringen. Er wurde von der Maschine erfaßt, die ihm ein Bein zermalmte. Er rief noch aus: „Ich muß sterben!“ und wurde dann ohnmächtig. Seine Worte sollten in Erfüllung gehen; noch am Abend desselben Tags verschied er. In ganz England wurde damals weit mehr als von dem traurigen Ereignis von der Tatsache gesprochen, daß die Maschine „Northumbrian“ mit dem schwerverletzten Huskisson in 25 Minuten eine Strecke von 24 Kilometer durcheilt hatte, um ihn zu einem Arzt zu bringen.
Das war eine Stundengeschwindigkeit von fast 58 Kilometern, die mit Recht als ein großes Wunder angestaunt wurde.
In die für den Eröffnungstag aufgestellte Festordnung brachte dieser Unglücksfall eine schwere Störung. Wellington und Peel wollten sogleich ihren Zug verlassen und nicht bis nach Manchester mitfahren. Man stellte ihnen jedoch die Enttäuschung der vielen Tausende vor, die in jener Stadt warteten, und so ließen sie sich bewegen, bis zu Ende im Zug zu bleiben. An den Festlichkeiten nahmen sie jedoch nicht teil. Doch dies war nur eine Beeinträchtigung der Äußerlichkeiten, das große Werk war glücklich zur Vollendung geführt.
Die Person Stephensons und sein Werk begeisterten damals jedermann. Der Ruhm des großen Eisenbahnbaumeisters verdunkelte fast den Namen Wellingtons. Jeder, der irgend Gelegenheit hatte, mit Stephenson in Berührung zu kommen, drängte sich dazu, ihn und seine Feuermaschinen kennenzulernen. In Liverpool hielt sich zu jener Zeit ein Schauspieler namens Kemble mit seiner Tochter auf. Frances Anne Kemble, ein sehr schönes junges Mädchen, war wie ihr Vater ein bedeutendes darstellerisches Talent. Von allen großen Dingen leicht begeistert, bemühte sie sich um die Erlaubnis, mit dem ersten Eisenbahnzug fahren zu dürfen. Stephenson sah sie, und ihrer Anmut gelang es, ihn zu bewegen, sie sogar bei einer Probefahrt mitzunehmen. Über ihre Erlebnisse hierbei hat Frances Anne, die einen lebhaften Geist besaß und gut beobachten konnte, in einem Brief an ihre Freundin sehr beachtenswerte Angaben gemacht; sie geben ein gutes Bild von dem Eindruck, den die Lokomotive und ihr großer Vorkämpfer auf die Zeitgenossen machten. Nach der Übersetzung Max von Webers hieß es in dem Brief des Fräulein Kemble:
„Wir wurden der kleinen, munteren Maschine vorgestellt, die uns die Schienen entlang ziehen sollte. Sie (denn der zärtliche Sprachgebrauch macht die kuriosen, lieben kleinen Feuerrosse alle zu Stuten) besteht aus einem Kessel, einem Ofen, einer Bank und hinter der Bank einem Fasse mit genug Wasser, um ihren Durst während eines Rennens von fünfzehn Meilen zu stillen – das Ganze ist nicht größer als eine gewöhnliche Feuerspritze.
„Sie wandert auf zwei Rädern, die ihre Füße sind, und diese werden durch glänzende Stahlbeine bewegt, die sie Kolben nennen.
„Zügel, Gebiß und Trense, mit denen dies wundervolle kleine Tier geritten wird, bestehen zusammen aus einem kleinen Stahlhebel, der den Dampf auf die Beine (oder Kolben) wirken läßt oder ihn davon ablenkt. Ein Kind könnte ihn handhaben.
„Dieses schnarchende, kleine Tier, das ich mich immer versucht fühlte zu tätscheln, wurde nun vor unseren Wagen gespannt, und nachdem mich Mr. Stephenson zu sich auf die Bank genommen hatte, fuhren wir ungefähr mit zehn Meilen in der Stunde ab.
„Du hast keinen Begriff davon, was das Durchschneiden der Luft für ein Gefühl war. Und dabei ist die Bewegung so sanft wie möglich. Ich hätte lesen oder schreiben können. Ich stand auf, nahm den Hut ab und trank die Luft vor mir. Der Wind war stark, oder war es unser Anfliegen gegen ihn, er drückte mir unwiderstehlich die Augen zu.
„Als ich sie geschlossen hatte, war das Gefühl des Fliegens ganz zauberisch und sonderbar über jede Beschreibung – aber trotzdem hatte ich das Gefühl vollkommener Sicherheit und nicht die geringste Furcht.
„An einer Stelle ließ Mr. Stephenson, um die Kraft seiner Maschine zu zeigen, einen anderen Dampfwagen, der ohne Feuer und Wasser vor uns stand, am Vorderteil unserer Maschine befestigen, einen mit Bauholz beladenen Lastwagen aber hinter unseren mit Personen schwer besetzten Wagen bringen – und mit alledem flog unser braver, kleiner Sie-Drache davon! Noch weiterhin fanden wir drei Erdwagen, die ebenfalls vor unsere Maschine gebracht wurden, und auch diese schob sie ohne Zögern und Schwierigkeit vor sich her.
„Wenn ich hinzufüge, daß die scharmante, kleine Kreatur ebenso behende rückwärts wie vorwärts läuft, glaube ich, Dir einen vollständigen Bericht über ihre Fähigkeiten gegeben zu haben.
„Nun noch ein Wort über den Meister all der Wunder. Ich bin in ihn ganz verzweifelt verliebt! Er ist ein Mann, fünfzig oder fünfundfünfzig Jahre alt; sein Gesicht ist edel, obwohl von Sorgen gefurcht und trägt den Ausdruck tiefer Gedankenarbeit. Die Art, seine Ideen darzulegen, ist eigentümlich und sehr originell, treffend und eindringlich, und obwohl seine Sprache deutlich seine nordgrafschaftliche Abkunft bekundet, ist sie doch fern von jeder Gemeinheit oder Plumpheit. Er hat mir in der Tat gänzlich den Kopf verdreht! Vier Jahre haben genügt, sein großes Unternehmen zu vollenden. Die Eisenbahn soll am 15. nächsten Monats eröffnet werden. Der Herzog von Wellington wird herkommen, um dabei gegenwärtig zu sein, und ich denke, daß das bei der Masse der zusammenströmenden Zuschauer und der Neuheit des Schauspiels eine Szene von nie vorher dagewesenem Interesse geben wird.“
Ein männlicher Augenzeuge schrieb, gleichfalls nach Weber, über seinen Eindruck bei der Eröffnung der Eisenbahn:
„Man mag vom Pol zum Äquator, von der Straße von Malakka bis zum Isthmus von Darien reisen und wird nichts so Bewundernswürdiges sehen wie diese Eisenbahn. Die Donner der Ausbrüche des Vesuv und Ätna, die Konvulsionen der Natur bei einem Hochgewitter erschüttern durch ihre Größe, drücken aber den Stolz des Menschen tief darnieder, während die Szenen, die wir hier vor uns sehen und die sich in ihrer Macht nicht würdig beschreiben lassen, ein hohes Selbstgefühl und eine Bewunderung für die Geisteskraft des Menschen entwickeln, intensiver und lebendiger als alle Produkte der Poeten, der Maler und Philosophen.
„Die Erscheinung der Züge in den Tunnels und ihr Durchflug durch diese hat etwas Elektrisierendes. Das Donnergeprassel bei der Einfahrt, das plötzliche Versinken in tiefe Nacht und das Wiederdröhnen des Maschinengetöses in so engem Raum vereinigen sich, um einen momentanen Schauder, eine Ahnung der Vernichtung hervorzurufen – welches beim Wiederaustritt