Die Ströme des Namenlos. Emma Waiblinger

Die Ströme des Namenlos - Emma Waiblinger


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gesehen!«

      »O, das ist ein hochmütiges Ding, ich will nichts von ihr!« sagte ich, aber große Tränen liefen mir übers Gesicht.

      Ich kam im nächsten halben Jahr in der Schule ziemlich vorwärts; ich wollte mich vor der Gräther nicht noch einmal schämen, und wenn ich so von hinten her zwischen zwei Mitschülerinnen durch ihren lieben, feinen Kopf sah, war es mir ein heißer Ansporn. Auch war es zu Haus mit dem Vater schlimmer als je. Wir Kinder brauchten die Schule und die Schularbeiten nötig, um unsere Gedanken auszufüllen; wir spürten ohnedies damals schon genug, was Nerven seien, weil wir in der Nacht so wenig Ruhe hatten.

      Da hatten wir einmal den Buben ein Spiel abgeguckt, das uns absonderlich schön vorkam. Es war so, daß alle die für besiegt galten, die vom Gegner auf den Boden geworfen waren, und es ging greulich wild her dabei. Nun spielten wir's in der Freistunde. Wir waren zwei Parteien; die Elsbeth Gräther bei einer, ich bei der andern. Das Spiel war sehr lustig; eine ganze Reihe lagen schon besiegt auf dem Boden und sahen gemütlich und lachend dem tollen Ringen zu. Ich rannte gegen den Feind; da packten mich zwei Arme, ich sah die Augen der Gräther einen Moment fröhlich blitzend über mir und wurde ohne Kampf mit einem prächtigen Schwung auf den Boden geschmissen. Ein scharfer Schmerz ließ mich aufschreien, aber in dem allgemeinen Geschrei hörte das niemand. Ich war in einen spitzigen Stein gefallen und hatte eine Wunde am Hinterkopf, aus der Blut über meine Achsel lief. Ich drückte mein Sacktuch darauf und schloß die Augen und blieb still liegen.

      Ich lachte in einem leisen Hohn. »So, du vornehmes Fräulein, du ehrenkäsige Prinzessin du, jetzt hast du mir ein Loch in den Kopf geschmissen. – Geschieht dir grad recht, jetzt sind wir wieder gleich. Ich habe dich angelogen – und du bist schuld an dem Blut, das mir herunterläuft. Komm du nur auch einmal in eine Verlegenheit, du heilige Unschuld. Mein Unrecht und meine Verlogenheit kamen aus Elend und Schmerzen heraus; ich sprach in heißer Angst und Sehnsucht um dich. Pfui Teufel, wer wird so lügen! Ja freilich. Und du kommst im hellen Hurra mit deiner Lausbubenkraft und gibst mir einen Boxer, daß ich mich blutig schlage. Es ist grad recht so; fein ist das.«

      Ich spürte die Schmerzen mit einem grimmigen Behagen, und eine leise Seligkeit lief mir über den Leib.

      Das Spiel war aus und man rief, ich solle aufstehen. Aber in einer plötzlichen Müdigkeit und Schwäche blieb ich liegen.

      »Jetzt kommt's; geschieht dir grad recht,« dachte ich noch einmal. Die Mädchen standen ratlos und aufgeregt um mich herum, und man holte die Lehrerin.

      Sie beugte sich über mich, und als eine sagte, die Elsbeth habe mich hingeworfen, rief sie laut nach ihr.

      Richtig, da kam die Gräther herüber, und als ich ihre Stimme hörte, schlug ich die Augen auf. Sie war so schön mit roten Backen vom Spiel und mit den blitzenden, blauen Augen. Der schwarze Zopf hing ihr über die Schulter nach vorn herein, und wie ich sie so hübsch und begehrenswert sah, versank mein stacheliges Gefühl von vorhin, und in einem jähen Schmerz und in Traurigkeit fing ich an zu weinen.

      Die Elsbeth war heillos bestürzt.

      »Ja, freilich, ich habe sie hingeworfen. Wir haben so ein Spiel gemacht, wo man das mußte. Sie muß aber in etwas hineingefallen sein, so arg war der Fall nicht. Ach, das ist mir schrecklich arg!«

      Und dann stand sie ganz still da, und wußte sich nicht zu helfen.

      Die Lehrerin schob ihren Arm unter meinen Kopf und richtete mich auf.

      »Hast du weit heim?« fragte sie.

      Ich nickte. »Eine halbe Stunde die Steige hinauf!«

      »Wenn dich die Gräther führt, kannst du so weit gehen?«

      »Ich glaube, ja,« sagte ich.

      Da band sie mir ihr Taschentuch und das der Elsbeth um den Kopf, ging mit uns ein Stück weit von der Schule weg, gab mir die Hand und kehrte wieder um.

      Die Elsbeth hatte ihren Arm sorgsam unter meinen geschoben und wir waren beide still und verlegen. Als wir in der Webergasse waren, blieb ich stehen und sagte: »Jetzt geh nur wieder zurück! Ich komm' schon allein vollends heim. Es kann dir ja bloß recht sein, weil – ich habe dich doch einmal so arg angelogen!«

      Eine dunkle, rote Welle lief ihr über das Gesicht.

      »Ach, das ist schon lange her!« –

      »Ja, aber, du hast damals doch nichts mehr von mir wissen wollen, das ist jetzt immer noch das gleiche!«

      Da tat sie einen ihrer schönen, vollen Blicke herüber und sagte langsam:

      »Weißt du, Flaig, es ist nicht das gewesen, daß ich erfahren habe, daß deine Mutter nur eine Magd war und daß dein Vater – krank ist –, ich hätte es gern der Maier nun erst recht gezeigt, daß ich mit dir verkehren will. Aber es kam mir so ein bißchen prahlerisch und verlogen vor und ich mußte nun bei jedem Aufsatz, den der Rektor von dir vorlas, denken: was die wieder zusammenlügt! Aber gelt –« das sagte sie ganz leis und wurde wieder rot dabei, als müßte sie sich schämen, »du hast nur mich angelogen, daß ich nimmer so verächtlich sein sollte und so ekelhaft geringschätzig, wie ich immer war, als wäre ich etwas Besseres als du?«

      Ich nickte schweigend und sah weg. Da bot sie mir die Hand hin.

      »Gelt, du bist mir nimmer böse deshalb. Wir haben den gleichen Heimweg bis zum Berg hin; da können wir jetzt jeden Tag zusammen heimgehen.«

      Ich schwieg immer noch und ließ mich von ihr führen, und jetzt wurde wieder die höhnische Stimme von vorhin in mir laut: »Ja, gelt, –« dachte ich, »jetzt kannst du dir Mühe um mich geben. Schwätz du nur; das ist jetzt grad recht.«

      »Hast du Schmerzen in deinem Kopf,« fragte sie nach einer Weile.

      »Ja,« sagte ich, und es war nicht gelogen.

      »Was kann man denn tun?« fragte sie ratlos. »Soll ich ein Taschentuch an einem Brunnen naß machen und es dir herumlegen?«

      Ich schüttelte den Kopf. »Nein, laß nur, es hat doch keinen Wert.«

      Halbwegs an der Steige war eine Bank, da lief ich drauf zu und setzte mich erschöpft drauf hin. Sie stand vor mir und streichelte meine Hand. »Jetzt kannst du streicheln,« dachte ich wieder, »vorher hättest du mich anspucken können vor Verachtung,« und ich zog meine Hand schnell weg.

      »Kannst du jetzt wieder weitergehen?« fragte sie ängstlich. »Oder soll ich dich tragen? Ich habe schon Kraft.«

      »Das habe ich vorhin im Schulhof gemerkt,« sagte ich und lächelte. Da wurde sie wieder rot. Ich sah, wie sie mit sich kämpfte und blaß und wieder dunkel wurde und mit einemmal neben mir saß und ihre Arme um meinen Hals legte.

      »Du, Flaig,« sagte sie leis, »du mußt nicht meinen, ich tue so, weil ich meine, ich könne damit meine Grobheit von vorhin wieder gut machen. Aber wie du im Schulhof gelegen bist und geweint hast, habe ich dich auf einmal lieb gehabt. Man hat gut gemerkt, daß das nicht wegen den Schmerzen war, sondern um – weil einen halt jemand gekränkt und mißachtet hat. Und ich hab gedacht, ob die Maier oder die Klara Eiselen wohl auch geweint hätten, wenn ich nichts von ihnen gewollt hätte. Oder wer das überhaupt getan hätte. Und da wußte ich einfach, daß ich dich lieb habe, und daß du mehr wert bist als die Maier und die Eiselen zusammen, weil du um meine verlorene Freundschaft so traurig sein kannst. Und gelt, – du Flaig, wie heißt du mit deinem Vornamen?«

      »Agnes!«

      Da fuhr sie ganz liebreich und sanft über meinen Kopf und sagte ein paarmal: »Agnes, Agnes, Agnes! Ich möchte so arg gern deine Freundin sein, und daß du mir alles sagst, wenn du traurig bist, und wie du deine schönen Aufsätze machst und an was du immer denkst, wenn du so zum Fenster hinausschaust und beinah deine Augen zumachst.«

      Es war mir schwach und glücklich zu Mut. Ich spürte, wie immer mehr Blut von meinem Haar herunterlief. Ich strich mir über den Kopf und sagte: »Es tut mir so weh und so wohl. Es war eigentlich fein, daß du mich hingeschmissen hast.«

      Dann gingen wir ganz langsam weiter, und sie führte mich fest. Als wir unser Haus sahen, dachte ich, ich müßte mich schämen, wenn sie in unsere ärmliche Stube hineinkäme und vollends, wenn


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